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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall
Autoren: Sandra Lüpkes
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Papierkorb zu entsorgen und dann nie wieder daran zu denken. Aus und vorbei. Stattdessen hatte Wencke angefangen, wie wild in alten Wunden zu stochern.
    Zöllner klopfte an, öffnete die Tür einen Spalt und fragte flüsternd, ob er helfen könne. »Es tut mir leid, wenn ich Ihnen da jetzt unnötig Ärger verschafft habe.« Er sah elend aus.
    Silvie schnaubte. »In Zukunft keine Gespräche mehr von dieser Person!«
    »Ganz bestimmt nicht!«, kuschte Zöllner. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
    Klar, ihr Sekretär schielte auf die Uhr, sein Feierabend hatte längst begonnen. »Verbinden Sie mich bitte mit Alf Urbich!«
    Er stutzte. »Sie meinen den Alf Urbich?«
    Statt einer Antwort bekam er ein Paar hochgezogene Augenbrauen präsentiert. Ja, sie meinte den Alf Urbich, Karls engsten Berater während der Zeit als Parteivorsitzender, der dem Aussehen nach einem Pitbull glich – und diesem auch charakterlich in nichts nachstand. Entsprechend erfolgreich war dieser Mann, wie so viele ausrangierte Politgrößen, heute in der freien Wirtschaft tätig. Eigentlich hatte Karl seit Jahren schon den Kontakt zu Urbich abgebrochen.
    Silvie schloss die untere Schublade auf, suchte nach dem alten Adressbuch und fand darin die Geheimnummer, die vor vielen Jahren einmal notiert worden war. Für den Fall der Fälle. Den Fall, der heute eingetreten war.
    »Hier habe ich die Kontaktdaten. Falls das Vorzimmer Probleme macht, richten Sie aus, dass es um die Sache in Bad Iburg geht. Und dann stellen Sie bitte unverzüglich durch.«
    »Sehr gern.«
    »Danach dürfen Sie gehen. Vielen Dank!«
    Er machte einen angedeuteten Bückling, ja wirklich, und das mochte Silvie sehr. Sie würde nicht dulden, dass dieses Leben, das sie seit vierzehn Jahren führte, durch eine Frau wie Wencke Tydmers plötzlich in Gefahr gebracht wurde.

Skuld
    [… noch sechs Tage …]
    Jede Geschichte, die erzählt wird, verändert die Welt.
    Es gibt kleine Geschichten, die fast unsichtbar bleiben in ihrer Wirkung.
    Und es gibt die ganz großen Geschichten, die Sagen, so voll von Leben und Tod, von Liebe und Hass, von Glaube und Verzweiflung, dass jeder, dem sie zu Ohren gekommen sind, sich daran erinnern wird, bewusst oder unbewusst, als hätte er sie selbst erlebt.
    Um die Macht dieser Geschichten zu erahnen, muss man sich dicht an den Ursprung wagen, dort, wo die Welt täglich stirbt, um neu geschaffen zu werden. Man muss das Feuer kennen, das unter uns brennt und darauf wartet, auszubrechen und zu zerstören. Man muss von Wasser umgeben sein, das in Grenzen verweist und doch der Weg in die Freiheit ist.
    Man muss die Erde betreten, karg und dünn wie Eierschale, doch aufgetürmt zu Bergen, die den Himmel berühren  – nur wer hier lebt, kann die Sagen verstehen. Geschichten wie diese umspannen alles, was geschehen ist und noch geschehen wird. Weil sie noch nicht zu Ende erzählt worden sind.
    Baldr, der Sohn eines mächtigen Gottes, der Welt größte Hoffnung, war Licht und Gerechtigkeit, Stärke und Schönheit. Ihm war prophezeit, jung zu sterben durch einen hölzernen Pfeil. Da lief seine Mutter zu allen Pflanzen, die auf der Erde wuchsen, um ihnen das Versprechen abzunehmen, ihrem wunderbarenSohn niemals zu schaden. Doch sie vergaß den Mistelstrauch, der ihr zu klein und ungefährlich erschien, als dass er zur todbringenden Waffe taugen würde.
    Davon erfuhr Loki, der klügste und charismatischste unter den Göttern, der das Gute auf der Welt nicht länger ertragen konnte. All diese Heuchler und Harmonisierer und ihr hohles Geschwätz über eine glänzende Zukunft waren ihm zuwider. Er sorgte dafür, dass der als unverwundbar geltende Baldr beim Spiel ausgerechnet von einem Mistelzweig getroffen wurde und umkam. Die trauernde Familie bettete den leblosen Sohn, mit dem alle Zuversicht auf eine glückliche Zukunft gestorben war, auf einem Floß und ließ ihn mit den Wellen ins Totenreich schwimmen.
    Ich liebe diese Sage. In ihr stecken die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
    Und in ihr steckt auch meine Geschichte.
    Die erzählt werden muss.
    Die ein Ende braucht.
    Ein gerechtes Ende.

Verðandi
    [12. Juni, 9.45 Uhr, Büro LKA,
    Waterlooplatz, Hannover, Deutschland]
    Die Nacht war eine von der Sorte gewesen, in der Schlaf und unfreiwilliges Wachsein ineinanderflossen. Und im Brackwasser des Bewusstseins vermengten sich die Schatten des letzten Tages: Wie wütend Wencke war, von dieser arroganten Silvie dermaßen abgekanzelt worden zu sein!
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