Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall
Autoren: Sandra Lüpkes
Vom Netzwerk:
Wie tief der Schmerz noch immer saß, wenn sie an den kleinen Jan Hüffart dachte! Wie sonderbar sie es fand, dass jemand ihr die alten Notizen zugeschickt hatte!
    Ab und zu hatte sie das Licht angeknipst, den Brief zur Hand genommen, das Foto angestarrt, und irgendwann nach Mitternacht machte es Klick und Wencke erinnerte sich glasklar an den Moment, in dem es aufgenommen worden war: Kalte Januarluft hatte hauchdünne Eisschichten auf den Charlottensee gelegt und Silvie hatte muttihaft gewarnt, man solle sich besser Mützen aufsetzen. Bei Doro und Wencke war das zum einen rotgefrorenen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgegangen. Damals kannten sie sich bereits drei Monate, teilten sich seit Oktober ein Zimmer, hatten dieselben Lehrer und ähnliche Ziele, waren aber auch wie Feuer und Wasser, besonders Doro und Silvie, die nicht selten aneinandergerieten. Im Park hatten sie Frankie getroffen. Wahrscheinlich kein Zufall, denn Doro übernachtete seit einiger Zeit bei diesem Typen, der das krasse Gegenteil der schnauzbärtigen Kollegen oben im Schloss war.Sie behauptete, er sei ein begnadeter Liebhaber. Silvie quittierte diese Information mit einer angewiderten Miene. Deswegen schaffte sie auf dem Foto auch nur so ein gequältes Lächeln.
    Frankie war es gewesen, der den Auslöser gedrückt hatte. Er hatte »Cheese« gerufen, wie man das in den neunziger Jahren immer so spaßig fand. Und dann hatte er fotografiert. Mit Doros Apparat. Sie hatte ihn darum gebeten.
    Als es ihnen doch zu kalt wurde, waren sie wieder reingegangen. Doch den geruhsamen Feierabend hatten sie sich abschminken können: Gegen halb elf wurden sie alle aus den Betten gerissen. Sondereinsatz, ein kleiner Junge war verschwunden, alle sollten beim Suchen helfen. Bad Iburg wurde für viele Stunden von den Kegeln Hunderter Taschenlampen illuminiert. Bis auf das Fahrrad hatten sie nichts gefunden. Nicht an diesem Tag. Nicht am 18. Januar 1994.
    Wencke musste ihren schweren Kopf mit den Händen abstützen. Von Müdigkeit malträtiert saß sie seit nunmehr anderthalb Stunden am Schreibtisch, sortierte Unterlagen für die Reise nach Island und schweifte doch immer wieder ab zu den Ereignissen, die damals in Bad Iburg über sie hereingebrochen waren. Was ließ sich heute noch davon finden?
    Wencke gab den Namen Frank-Peter Götze in die Suchmaschine ein. Wikipedia zeigte das halb verdeckte Gesicht auf einem sehr pixeligen Foto, schwarz-weiß, fast so als hätte Frank-Peter Götze im ausgehenden 19. Jahrhundert gelebt und nicht vor zwanzig Jahren. Links und rechts flankiert von strengen Polizisten wurde er aus seinem Haus geführt. Sechstagebart und halblanges Haar, Doros Freund war kein Adonis gewesen.
    Frank-Peter Götze (* 23. August 1961 in Rackwitz) wurde im Jahre 1994 rechtskräftig als Entführer und Mörder des zwölfjährigen Politikersohns Jan Hüffart zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen erpresserischen Menschenraubs und Mordes verurteilt.
    Wencke überflog die Zeilen. Den Artikel zu lesen fühlte sichan, als wenn man nach Jahren ein altes Schulbuch in die Hand bekommt und denkt: Stimmt, da war mal was, jetzt kommt es mir wieder in den Sinn. Dass man irgendwann einmal diesen Stoff rauf und runter hatte predigen können, war kaum noch vorstellbar.
    Götze hatte sich als Hilfsarbeiter einer Gartenbaufirma ausgegeben und war so in den Privathaushalt des Spitzenpolitikers gelangt. Seine Forderungen zur Freilassung waren angeblich politischer Natur, wurden jedoch der Öffentlichkeit nie detailliert bekannt gemacht. Gerüchte, denen zufolge es bei den Forderungen um die Bekanntmachung von vermeintlicher Korruption bei Treuhandgeschäften ging, ließen sich nie offiziell bestätigen, wurden aber durch Götzes sächsische Herkunft und seine Zugehörigkeit zu einer linksalternativen Gruppierung genährt. Jan Hüffart wurde in der zweiten Nacht nach der Entführung tot im Bad Iburger Schlosspark aufgefunden. Der Mörder hatte seine Leiche auf einem Boot aufgebahrt, das auf dem Charlottensee schwamm. Die Obduktion ergab, dass er wenige Stunden zuvor erstochen worden war. Eine Zeugin gab den entscheidenden Hinweis auf Frank-Peter Götze. Bei seiner Festnahme am Abend des 20. Januar 1994 durch ein Spezialeinsatzkommando verwickelte Götze sich in Widersprüche. Seine Version, er habe den Jungen zwar entführt, ihn aber nach Erfüllung seiner Forderungen wieder freigelassen, wurde widerlegt. Den Mord an Jan Hüffart hat Götze bis heute nicht gestanden.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher