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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall
Autoren: Sandra Lüpkes
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Seine damalige Lebensgefährtin, die ihm ein Alibi verschaffte, indem sie behauptete, er sei in der Mordnacht mit ihr zusammen gewesen, wurde als unglaubwürdig eingestuft und Götze aufgrund der Indizien schuldig gesprochen.
    An Götze selbst erinnerte Wencke sich eher dunkel. Doro hatte ihn bereits während der ersten Woche in einer Bad Iburger Eckkneipe aufgegabelt und war von da an oft bis zum nächsten Morgen bei ihm geblieben. Er war locker zehn Jahre älter, stammte irgendwo aus dem Osten, machte irgendetwas Linksalternativesund nahm es vermutlich mit dem Betäubungsmittelgesetz nicht so genau. Sein sächsischer Dialekt war nicht allzu stark, aber trotzdem unsexy gewesen.
    Dass er bereit gewesen war, einiges für seine Ideale zu riskieren, hatte niemanden verwundert, selbst die Entführung war ihm zuzutrauen gewesen. Aber Mord? Gegen diese Vorstellung hatte Wencke sich immer gesperrt. Auch wenn die Beweislage damals eng und das Gerichtsurteil unumstritten gewesen war.
    Plötzlich stockte sie: Ganz unten war allem Anschein nach recht aktuell die Rubrik Frank-Peter Götze heute hinzugefügt worden: Nach zwei vergeblichen Entlassungsgesuchen wurde Frank-Peter Götzes Antrag nach 19 Jahren Haft zugestimmt und die Reststrafe für fünf Jahre auf Bewährung ausgesetzt. Er befindet sich heute auf freiem Fuß.
    [12. Juni, 11.57 Uhr, Kröpcke, Hannover, Deutschland]
    Eigentlich treffen sich hier nur die Touristen, dachte Wencke und blickte zur dunkelgrünen, viereckigen Säulenuhr, deren römisches Ziffernblatt zeigte, dass es kurz vor Mittag war. Tilda Kosian würde keinesfalls zu früh kommen, das war nicht ihre Art.
    Der Kröpcke, ein Platz, an dem drei wichtige Hannoversche Einkaufsstraßen sich trafen, füllte sich mittags stets mit Leben, wenn die ersten Angestellten der umliegenden Firmen auf dem Weg waren, um ihren Lunch zu genießen. Handyverkäufer mit gegelten Hahnenkämmen gönnten sich einen Döner, ebenso die Schlipsträger aus den höher liegenden Büroetagen oder die mehr oder weniger begnadeten Straßenmusiker. Sorgsam geschminkte Frauen, bei denen die hochhackigen Schuhe exakt zur Handtasche passten, trippelten an Wencke vorbei. Auch bei Wencke harmonierten Fußbekleidung und Gepäck optimal: Turnschuhe und Rucksack waren gleichermaßen verschlissen.
    Wencke setzte sich auf den Betonsockel der Uhr und schlug das Buch auf, das sie sich eben in der Stadtbibliothek aus dem Regal für isländische Kultur besorgt hatte. Internetrecherche war zwar bequemer, aber das Papier hier roch nach trockenem Holz, nach den vielen Händen, durch die es bereits gegangen sein mochte, und ein bisschen nach Tabak. Interessanterweise ergab alles zusammen eine aparte olfaktorische Note, die Wenckes Lust auf die raue Natur des Nordens allmählich weckte.
    Das Weltbild nordgermanischer Mythen  – das war so ziemlich das einzige Buch in all den Regalen gewesen, welches sich konkret mit dem Thema des Symposiums beschäftigte. Das Standardwerk schlechthin, hatte die Bibliothekarin versichert, jeder, der sich mit nordgermanischen Sagen auseinandersetze, habe dieses Buch in seinem Regal. Und auch wenn man nicht darin lese, der Einband sei allein für sich genommen schon prächtig: dunkelgrünes Leinen und goldglänzende, verschlungene Lettern  – anschließend hatte Wencke sich vor lauter Ehrfurcht kaum noch getraut, das Ding in die Hand zu nehmen.
    Wencke war sich nicht sicher, was sie überhaupt über die alten Germanen wusste, zum Stichwort Nibelungenlied fielen ihr bestenfalls der blonde Siegfried und sein Bad im Drachenblut ein. Eventuell noch die Walküren, ja, das hatten sie in der Oberstufe mal durchgenommen, währenddessen hatte Wencke aber stets Pullover gestrickt, um etwas Sinnvolles zu tun.
    Die Initialen jedes neuen Kapitels waren künstlerisch verflochten, auf einigen Seiten gab es detailreiche Illustrationen. Dünne Federstriche zeigten muskulöse Männer mit wallendem Haupthaar und bluttriefenden Waffen neben Frauen mit verklärtem Gesichtsausdruck. Einige Namen waren Wencke inzwischen geläufig: Odin und Thor, die mächtigen Götter, Frigga und Freya als einflussreiche weibliche Pendants dazu. Riesen und Schlangen und Angst einflößende Wölfe, die das Ende der Welt herbeiführten, die in Himmel, Hölle und Hier geteilt war.Loki, ein auffallend gut aussehender Gott mit scharf geschnittenem Gesicht, war ein Intrigant der übelsten Sorte. Aha, gut, die gab es ja im wahren Leben auch. Und sie sahen meistens auch
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