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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab
Autoren: Arnaldur Indridason
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Sinn. Da erinnerte sie sich plötzlich an etwas Komisches.
    Etwas von dem, was sie geträumt hatte. Sie fasste sich an die Seite und schaute zur Tür, stand dann eine Weile bewegungslos da, bevor sie sich ihr zu nähern wagte. Auf einmal konnte sie sich glasklar an diesen bizarren Vorfall erinnern. Sie war sich sicher, dass sie das nur geträumt hatte, aber irgendwie stand ihr das Ganze so intensiv und unmittelbar vor Augen, als habe sie es selbst erlebt. Sie blieb eine Weile vor der Tür stehen, bevor sie sie öffnete und auf den dunklen Flur hinausschaute. Sie 325

    machte Licht und untersuchte ihre Tür.
    Das kleine schwarze Loch von der Kugel war nicht zu übersehen. Sie berührte es mit den Fingern, strich darüber, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Auf einmal erinnerte sie sich an den Traum und wusste, was los war. Dass es gar kein Traum gewesen war. Auf einmal wusste sie, dass es gar nicht mehr der Tag war, an dem sie vorhin noch glaubte, erwacht zu sein, sondern schon viel, viel später. Viel zu spät. Es war alles zu Ende.
    Sie erinnerte sich an Ratoff.
    Erinnerte sich an Steve.
    Begriff, was der Mann am Telefon gesagt hatte.
    Carr hintergeht man nicht.
    Kristín schloss die Tür. In der Diele hing ein Spiegel, und als sie sich umdrehte und ins Wohnzimmer zurückgehen wollte, erkannte sie ihr eigenes Spiegelbild nicht. Sie hatte das Gefühl, einer Unbekannten ins Gesicht zu blicken, die mitgenommen aussah, Ringe unter den Augen hatte und der das dreckige Haar am blutverschmierten Ohr klebte. Die Wunde hatte sich wieder geöffnet. Der Winteroverall, den sie trug, war mit Steves Blut bespritzt. Sie wusste nicht, wer diese Frau war, starrte sie an und schüttelte verständnislos den Kopf.
    Steve.
    Sie erinnerte sich an Steve.
    Sie sah, wie die Frau im Spiegel in Tränen ausbrach und zusammensank, als die Trauer erbarmungslos über sie hereinbrach und sie zu Boden streckte.
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    Später konnte sie sich nicht genau daran erinnern, was sie in diesen ersten Minuten gemacht hatte, nachdem sie wieder zu Bewusstsein gekommen war und die Erinnerungen an das, was in den letzten Tagen geschehen war, aus dem Unterbewusstsein hochdrangen. Sie verstand den Anruf nur allzu gut. Sie erinnerte sich an Ratoff in dem Flugzeug und an alles, was Miller gesagt hatte. Sie erinnerte sich an die Leichensäcke und an Steve und an Jón, der zu Füßen des Gletschers wohnte, an die Schießerei vor der Kneipe und die Verfolgungsjagd auf der Basis. An die Mormonen, die zu ihr gekommen waren und an Elías, der sie vom Gletscher aus angerufen hatte. Elías!
    Sie sprang zum Telefon, rief sämtliche Krankenhäuser in Reykjavik an und fand heraus, dass Elías im Borgarspitalinn lag.
    Er war immer noch auf der Intensivstation, schwebte aber nicht mehr in Lebensgefahr und würde bald auf eine andere Station verlegt werden. Sie konnte ihn jederzeit besuchen.
    »Es ist allerdings etwas ungewöhnlich, dass Besucher so früh kommen«, erklärte die Stimme am Telefon.
    »So früh?«, fragte Kristín.
    »So früh morgens.«
    »Entschuldigung, was haben wir heute für einen Tag?«
    »Mittwoch. Wer spricht da?«
    Kristín legte auf. Am Freitag hatten die Mormonen versucht, sie umzubringen. Sechs Tage waren seitdem vergangen. Nur sechs Tage. Ein ganzes Menschenleben in sechs Tagen. Sie rannte aus der Wohnung, kehrte wieder um, rief ein Taxi an, lief wieder hinaus und wartete draußen in der Kälte. »Zum Borgarspitalinn«, sagte sie, als sie sich in das Taxi setzte. Die Stadt erwachte gerade zum Leben. Die Leute standen auf, 327

    versorgten die Kinder, gingen zur Arbeit. Große Schneeflocken rieselten vom Himmel. Sie kam sich vor, als sei sie nicht sie selbst, als stünde sie außen vor und beobachtete sich selbst. Als sei das nicht ihre Realität, als lebte sie das Leben einer anderen.
    Sie bezahlte das Taxi mit der Karte, hatte aber das dumpfe Gefühl, dass sie keine Karte verwenden sollte. Sie wusste nur nicht genau, warum.
    Die Krankenschwester, die sie zu Elías führte, reichte ihr eine Gesichtsmaske und händigte ihr einen papierartigen hauchdünnen Kittel und blaue Plastiküberzüge für die Schuhe aus. Sie gingen einen langen, hellen Gang entlang und gelangten in ein dunkles Zimmer, wo ein Mann bewegungslos im Bett lag, angeschlossen an alle möglichen Schläuche und Schnüre, die zu diversen Apparaten führten, die entweder summten oder in regelmäßigen Abständen piepten. Er hatte eine Sauerstoffmaske vor dem Gesicht, aber
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