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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab
Autoren: Arnaldur Indridason
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hinunter, ging noch eine Weile neben dem Brett her und blieb dann stehen. Sie empfand ihm gegenüber keinen Zorn oder Hass mehr. Sie empfand gar nichts. Das Brett rollte weiter vor, sie blickte ihm nach und sah Ratoff im Dunkel der Nacht verschwinden. Die Heckklappe schloss sich wieder.
    Kristín stand wie versteinert da. Sie vermochte sich nicht zu rühren und spürte, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Der ganze Horror, den sie erlebt hatte, brach jetzt mit voller Wucht über sie herein. Auf einmal war ihr alles vollkommen gleichgültig, und für einen Sekundenbruchteil war es ihr sogar durch den Kopf gegangen, die Gelegenheit zu nutzen und ebenfalls im Dunkel zu verschwinden. Einfach nach draußen zu springen.
    Aber diese Anwandlung ging vorbei.
    Als sich die Heckklappe wieder schloss, wurde es im Laderaum ruhiger. Kristín drehte sich um und sah sich einem großen und Respekt einflößenden älteren Mann in der Uniform eines Generals gegenüber. Hinter ihm standen die drei Männer, die sie zuvor an der Hecköffnung gesehen hatte. Miller stand an der Seite des Mannes, der ihr jetzt die Hand reichte.
    »Kristín, nehme ich an«, sagte Carr.
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    Carr, Kristín und Miller hatten in den Mannschaftsräumen Platz genommen. Kristín wusste nicht, wo die drei anderen Männer abgeblieben waren. Sie wusste nicht, wie viele Menschen an Bord waren. Ihr wurde eine Tasse Kaffee gereicht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte.
    Vielleicht bei Jón, vielleicht aber auch nicht. Sie hatte keine Ahnung, was für ein Tag, Woche, Monat es war, wusste nicht, wie lange sie nicht mehr geschlafen hatte. Sie wusste nur, dass sie sich in einem Flugzeug auf dem Weg über den Atlantik befand. Sie wusste, dass Steve tot war.
    »Miller versucht, mich davon zu überzeugen, dass Sie nicht wissen, was sich in der deutschen Maschine befunden hat«, erklärte Carr. »Er besteht darauf, dass Ihr Leben geschont wird.
    Er ist der Meinung, dass es zu wenig Isländer auf der Welt gibt.«
    »Wie heißen Sie?«, fragte Kristín.
    »Spielt keine Rolle.«
    Carr hintergeht man nicht, dachte Kristín. Sie sah Ratoff vor sich, festgezurrt auf dem Fließband.
    »Sind Sie Carr?«, fragte sie.
    »Die Mission ist beendet, was uns betrifft. Wir ziehen gerade den Schlussstrich.«
    Ein Mann erschien in der Tür, trat zu ihnen, beugte sich zu Carr herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Carr nickte, und der Mann ging wieder hinaus.
    »Sie Schwein«, zischte Kristín leise.
    »Wie bitte?«, sagte Carr.
    »Verdammtes Amischwein.«
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    »Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen.«
    »Verstehen!«, lachte sie höhnisch. »Wie können Sie überhaupt irgendwas verstehen?«
    Kristín spie die Worte regelrecht aus. Sie bemerkte Millers entsetzte Miene nicht. Er versuchte, etwas einzuwerfen, aber Carr verhinderte das.
    »Ihr Mörder!«, fuhr Kristín fort.
    »Ich bedaure zutiefst, was mit Ihrem Bruder und seinem Freund passiert ist«, sagte Carr. »Das hätte nie geschehen dürfen.«
    Kristín sprang hoch, lehnte sich über den Tisch und versetzte ihm eine so derbe Ohrfeige, dass sein Kopf auf die Seite flog.
    Miller schrie auf sie ein. Zwei Männer erschienen hinter ihr und zwangen sie wieder auf ihren Sitz. Carr strich sich über die Wange, die rot anlief.
    »Sie haben gesehen, was mit Ratoff geschehen ist«, sagte er ruhig.
    »Und soll das eine Genugtuung für mich sein, diesen Sadisten aus der Maschine rollen zu sehen?«
    »Er ist zu weit gegangen und wurde dafür bestraft. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie willens waren, ihm zu helfen.«
    »Ihr Schweine.«
    »Nicht, Kristín«, sagte Miller. »Genug damit.«
    »Wir werden Sie wieder nach Island zurückbringen«, sagte Carr. »Wir müssen nur so lange warten, bis die Delta-Einheit mit der ganzen Ausrüstung wieder aus dem Land ist, aber danach sind Sie uns los, und wir sind Sie los. Sie können ruhig erzählen, was Sie wollen, Sie können sich an die Regierung wenden und an die Medien, mit Ihrer Familie und Ihren Freunden sprechen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand Ihnen Glauben schenken wird. Wir sind bereits dabei, alle möglichen irreführenden Informationen über die Operation 319

    auszustreuen. Am Ende herrscht Verwirrung auf der ganzen Linie, niemand wird etwas wissen, und das ist auch gut so. Mit unseren Einheiten ist ein Isländer unterwegs nach Keflavík, Júlíus heißt er, ein Freund von Ihnen, wenn ich recht verstehe.
    Ihm ist nichts passiert, und
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