Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab
Autoren: Arnaldur Indridason
Vom Netzwerk:
eröffnen, darüber hatten sie schon mal gesprochen. Sie mochte ihren Job im Außenministerium nicht besonders, und wenn sie jetzt auch noch mit solchen Drohungen leben musste, machte das die Situation noch unerträglicher. All diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf, ohne dass sie sich mit einem davon länger beschäftigte. Sie durchzuckten sie blitzartig und streiften nur eben ihr Unterbewusstsein.
    Als sie mehr als eine halbe Stunde wie betäubt auf dem Sofa gelegen hatte, machte sie einen Versuch aufzustehen. Erst da spürte sie den Schmerz in ihrer Seite. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als er sie durchzuckte, ließ sich aufs Sofa zurückfallen und wartete darauf, dass er wieder nachließ. Sie trug einen völlig verdreckten Winteroverall, aber sie bemerkte das gar nicht und verschwendete keinen Gedanken an die Frage, weshalb sie darin steckte. Sie zog den Reißverschluss herunter, hob den Pullover hoch und sah den Verband unterhalb der Rippen. Sie starrte eine ganze Weile darauf und begriff überhaupt nichts mehr. Sie hatte keine Erinnerung daran, dass sie sich verletzt hatte.
    Sie konnte sich nicht erinnern, in die Ambulanz gegangen zu sein, um sich verarzten zu lassen. Sie wusste nicht, was für eine Wunde das war. Sie musste aber wahrscheinlich im Krankenhaus gewesen sein.
    Sie hatte die unglaublichsten Dinge geträumt.
    323

    Sie machte noch einen Versuch, sich zu erheben, und es gelang ihr trotz der Schmerzen, sich auf dem Sofa aufzusetzen.
    Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, ging aber davon aus, dass der Laden schon zuhatte. Sie blickte sich in der Wohnung um, so gut sie das im Dunkeln konnte, und alles schien in Ordnung zu sein. Trotzdem kam es ihr so vor, als hätte sie in der Küche das Licht brennen lassen, bevor sie sich hinlegte. Und woher stammte diese Verletzung? Sie konnte sich an nichts erinnern, aber es musste ziemlich schlimm gewesen sein. Das war kein kleiner Verband, und ihre ganze Seite war blauschwarz.
    Sie stand unter Mühen auf und ging in die Küche. Sie machte Licht, ging zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Sprudel heraus. Sie kam um vor Durst. Sie leerte die Flasche vor dem offenen Kühlschrank in einem Zug, ging anschließend zum Waschbecken, ließ das kalte Wasser eine Weile laufen und schlürfte es dann gierig direkt aus dem Hahn. Es war zum Ersticken heiß in der Wohnung. Sie ging zum großen Küchenfenster, öffnete es und sog tief die kühle Winterluft ein.
    Ihre Aktentasche war an ihrem Platz, und die Unterlagen, die sie mit nach Hause genommen und auf den Küchentisch gelegt hatte, lagen noch so da wie vorher. Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr, es war kurz nach sieben. Sie hatte viel zu lange geschlafen, eine ganze Stunde. Einkaufen konnte sie jetzt vergessen. Sie fluchte still vor sich hin. Benommen. Völlig kraftlos. Sie sank auf einen Küchenstuhl nieder und starrte vor sich hin. Irgendetwas war geschehen, etwas Grauenvolles, aber sie wusste beim besten Willen nicht, was es war.
    Ratoff?
    Plötzlich begann das Telefon zu klingeln. Kristín schreckte hoch, denn das Geräusch ging ihr in der Stille durch Mark und Bein. Sie starrte auf das Telefon, als handele es sich um ein völlig unbekanntes Objekt. Aus irgendwelchen Gründen war ihr erster Gedanke, nicht dranzugehen. Es konnte Randolf sein.
    324

    Dann erinnerte sie sich, dass Elías sie vom Gletscher aus anrufen wollte. Aber hatte er nicht schon angerufen?
    War da nicht etwas mit Elías?
    Sie stand auf, ging langsam zum Telefon und nahm den Hörer ab.
    Es war ein Ausländer. Er sprach englisch. Ganz sicher ein Amerikaner. Vielleicht Steve, aber nein. Die Stimme klang älter.
    »Carr hintergeht man nicht«, sagte die Stimme am Telefon, und dann wurde aufgelegt. Nicht aufgeknallt, sondern aufgelegt.
    Langsam. Der Anrufer schien keine Eile zu haben.
    »Hallo«, sagte Kristín, aber sie hörte nur das Besetztzeichen.
    Sie legte den Hörer wieder auf. Carr hintergeht man nicht.
    Unverständlich. Der hatte sich bestimmt verwählt.
    Mein Gott, wie benommen sie war! So als würde sie krank werden, als wäre eine Grippe im Anmarsch. So etwas grassierte ja zu dieser Jahreszeit. Sie ging wieder ins Wohnzimmer. Der Satz des Anrufers hallte immer noch in ihrem Kopf wider.
    Carr hintergeht man nicht.
    Carr hintergeht man nicht.
    Carr hintergeht man nicht.
    Was hatte das zu bedeuten?
    Sie stand mitten im Wohnzimmer, allein in der Dunkelheit, in einem dreckigen Winteroverall, und der Satz ging ihr nicht aus dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher