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Gletschergrab

Gletschergrab

Titel: Gletschergrab
Autoren: Arnaldur Indridason
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er wird unversehrt am Tor zu unserem Stützpunkt abgeliefert. Er kann Ihre Aussage bestätigen, genau wie Ihr Bruder. Heißt er nicht Elías? Soweit ich weiß, ist er am Leben und liegt in Reykjavik im Krankenhaus.«
    Kristín biss knirschend die Zähne zusammen.
    »Wir haben auch immer noch die Möglichkeit, jemanden auf Sie anzusetzen. Das müssen Sie den beiden anderen klar machen. Es ist unser voller Ernst. Von mir aus können Sie sagen, was Sie wollen, aber wenn beispielsweise dieser Júlíus eines schönen Tages auf einmal von der Bildfläche verschwindet, dann wissen Sie, weshalb.«
    »Alles nur wegen …«, sagte Kristín.
    »Eines alten Flugzeugs«, unterbrach Miller sie. »Alles wegen eines alten Flugzeugs.«
    »Ich möchte nur wissen, was hier vor sich geht. Was ist eigentlich los? Was ist die Wahrheit?«
    »Die Wahrheit«, entgegnete Carr. »Sie stellen zu hohe Forderungen, Kristín.«
    »Forderungen?«
    »Es gibt heutzutage keine Wahrheiten mehr, wenn es denn jemals welche gegeben haben sollte. Wahrheit und Lüge sind nur Instrumente in unseren Händen. Für mich besteht da kein Unterschied. Man könnte sagen, dass wir in gewissem Sinne so etwas wie Historiker sind, die etwas von den Fehlern dieses in den letzten Zügen liegenden Jahrhunderts korrigieren. Es hat nichts mit irgendeiner Wahrheit zu tun, denn sie spielt überhaupt keine Rolle mehr. Wir gestalten die Geschichte so, wie es uns passt. Armstrong, der Astronaut, ist einmal nach Island 320

    gekommen. Aber wer kann schon sagen, ob er wirklich auf dem Mond gelandet ist? Wer weiß, ob das die Wahrheit ist? Wir haben die Bilder gesehen, aber was für Beweise haben wir dafür, dass sie nicht in irgendwelchen Hangars der NASA aufgenommen worden sind? Ist das die Wahrheit? Wer hat Kennedy ermordet? Weswegen wurde der Vietnamkrieg geführt? Hat Stalin vierzig Millionen Menschen umgebracht?
    Wer verfügt über die Wahrheit?«
    Carr schwieg eine Weile.
    »Es gibt nichts, was Wahrheit heißt, Kristín«, sagte er schließlich. »Niemand weiß mehr die Antworten, und niemand hat ein Interesse daran, Fragen zu stellen.«
    Das war das Letzte, was Kristín hörte.
    Es fühlte sich an, als würde sie jemand in den Hals kneifen.
    Sie hatte niemanden hinter sich bemerkt, hatte die Spritze nicht gesehen. Sie spürte, wie ihr plötzlich die Kräfte schwanden und eine unendliche Ruhe über sie kam, bis dann alles um sie herum schwarz wurde.
    321

    44
    Wer war Ratoff?
    Der Name ging ihr ununterbrochen durch den Kopf.
    Ratoff?
    Sie lag wie erschlagen bei sich zu Hause auf dem Sofa in ihrer Wohnung am Tómasarhagi und vermochte sich nicht zu rühren.
    Sie spürte, wie sie aus den Tiefen des Schlafes ganz allmählich wieder zu Bewusstsein kam. Sie machte sich Gedanken, ob der Laden wohl schon zuhatte. Der Schlaf hielt sie immer noch gefangen. Vielleicht hatte sie zu lange geschlafen. Sie trank ihren Kaffee immer mit geschäumter Milch, hatte aber vergessen, Milch einzukaufen, als sie von der Arbeit nach Hause kam.
    Dieser Name ging ihr dauernd durch den Kopf, und er machte ihr Angst. Sie überlegte eine Weile, konnte sich aber nicht dazu aufraffen aufzustehen. Sie hätte am liebsten einfach weitergeschlafen. Sie war heute Morgen viel zu früh aufgestanden.
    Sie musste noch Milch einkaufen, das durfte sie nicht vergessen. Das war ihr erster klarer Gedanke.
    Und Ratoff.
    Sie öffnete langsam die Augen. Ihre Lider waren bleischwer.
    In ihrer Wohnung war es stockfinster. Sie lag geraume Zeit nur da. Irgendwie fehlte ihr die Kraft, sich zu rühren, sie wollte einfach nur liegen bleiben und darauf warten, dass die Müdigkeit aus ihren Gliedern wich. Unzusammenhängende Gedanken schossen ihr durch den Kopf, ohne dass sie einen Versuch machte, sie zu ordnen. Totales Chaos. Sie fühlte sich wohl, und dieses Gefühl durfte möglichst nicht beeinträchtigt werden. Sie hatte sich schon seit langem nicht mehr so wohl 322

    gefühlt. So was von müde.
    Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte sie an ihre Eltern und an ihren Bruder Elías. An den Juristen, mit dem sie zusammengelebt hatte und an Steve. Sie hatte immer bereut, auf welche Art und Weise sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Sie musste das irgendwann ins Reine bringen. Sie sehnte sich danach, ihn wieder zu treffen. Sie dachte an diesen spinnerten Randolf und ihre Kollegen im Ministerium und überlegte, ob es nicht an der Zeit war, sich einen anderen Job zu suchen.
    Vielleicht zusammen mit ihrer Freundin eine eigene Kanzlei zu
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