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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition)
Autoren: Franz Hohler
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Sein Schädel schlug mit einem bösen Geräusch auf dem Boden auf, und er blieb mit geöffnetem Mund und geschlossenen Augen liegen. Der eine Arm ragte ein bisschen über die Bahnsteigkante hinaus, auch die Mappe wäre beinahe auf das Geleise hinuntergefallen.
    Isabelle entfuhr ein Schreckenslaut, sofort eilten einige Leute herbei, Isabelle kniete neben dem Mann nieder und beugte sich zu seinem Gesicht. »Hallo, hören Sie mich?« fragte sie ihn. Er öffnete seine Augen, die irgendwohin ins Weite schauten, und als er auf ihren Blick traf, sagte er leise: »Bitte …« Der einfahrende Zug pfiff, als erschrecke er selbst, und jemand ergriff schnell die Hand des Mannes und legte sie ihm auf seine Brust. Eine Frau nahm die Mappe von der Perronkante auf und stellte sie auf Isabelles Koffer.
    Ein junger Mann mit pomadisierten Haaren rief auf seinem Handy die Ambulanz. Ein anderer rannte die Treppe hinunter zum Bahnhofsgebäude hinüber. Zwei asiatische Touristen hasteten am Verletzten vorbei auf die S-Bahn, die ungerührt und pünktlich abfuhr.
    Isabelle erkannte den Tod sofort. Sie war Stationsleiterin in der Pflegeabteilung eines Altersheims und hatte schon viele Menschen beim Sterben begleitet. Sie suchte den Puls des Unbekannten, fühlte keinen mehr, hielt ihr Gesicht so nahe wie möglich an seinen Mund, ohne einen Atemzug zu spüren, öffnete ihm dann unverzüglich das Hemd und versuchte es mit einer Herzmassage, aber sie merkte, dass sie keine Chance hatte, ihn zurückzuholen.
    Zwei Bahnangestellte kamen mit einem weißen Zelt, fragten in die Runde, ob jemand die Ambulanz benachrichtigt habe. Der junge Mann bejahte, und dann fragten sie Isabelle, ob sie fachkundig sei. »Ausgebildete Pflegefachfrau«, sagte sie kurz, während sie mit der Massage fortfuhr, und die Bahnangestellten richteten ihr Zelt über ihr und dem Liegenden auf und baten die Leute, weiterzugehen.
    Die Rettungssanitäter, die nach zehn Minuten eintrafen, hatten einen Defibrillator, einen Beatmungsbeutel mit Sauersto ff und ein Infusionsbesteck dabei, aber Isabelle winkte ab, sie hatte die Massage schon abgebrochen. Eine Ärztin aus der Permanence-Praxis gleich beim Bahnhof, die ebenfalls von jemandem gerufen worden war, stellte den Tod des Mannes fest. Sie sagte zu Isabelle, dass es ihr sehr leidtue und fragte sie, wie es denn genau passiert sei. Er habe ihr den Koffer die Treppe hochgetragen und sei dann kollabiert, sagte sie. Ob er Herz- oder Kreislaufbeschwerden gehabt habe, fragte die Ärztin weiter, und war etwas erstaunt, als Isabelle zur Antwort gab, sie habe keine Ahnung, und dann erst hinzufügte, dass sie sich gar nicht kannten.
    Nun betraten zwei junge Streifenpolizisten das Zelt und ließen sich über das Geschehene informieren. Draußen ging der Normalbetrieb weiter, Züge hielten an, Leute stiegen aus und ein, manche blieben neben dem Zelt stehen und versuchten einen Blick ins Innere zu werfen. »Sicher ein Selbstmord«, war einmal zu hören, oder »Nein, es ist einer zusammengebrochen«, Mutmaßungen, die sich über das Geräusch der aufsetzenden Schuhe legten, das bei der Ankunft eines Zuges dem Trampeln einer Schafherde glich, Durchsagen ertönten, »Achtung, Zugdurchfahrt auf Gleis 5!«, gefolgt vom Lärm eines vorbeibrausenden Schnellzuges, der jedes Gespräch zudröhnte.
    Der eine der Polizisten kniete nun nieder und griff dem Toten in die Jacke seines Anzugs, auf der Suche nach einer Brieftasche oder einem Kreditkartenetui oder sonst etwas, aus dem sich seine Identität ablesen ließe. »Seltsam«, sagte er, nachdem er alle Taschen abgesucht hatte, »gar nichts, kein Ausweis«. Er bat die Sanitäter, den Mann etwas zur Seite zu drehen, sodass er ihm sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche ziehen konnte, doch da war auch kein Portemonnaie. In der rechten Hosentasche fand sich ein kleiner Schlüssel und ein weißes Taschentuch mit einem blauen Rand und den Initialen M B. »Das ist nicht gerade viel«, sagte er, während sein Kollege, dem er den Schlüssel gegeben hatte, sagte, »kopierfähig«. Ein Allerweltsschlüssel also. Ob er nichts bei sich gehabt habe, Gepäck oder so, fragte er, doch Isabelle war nicht in der Lage, wirklich hinzuhören, und von den Zufallspassanten war niemand mehr da.
    Und sie habe ihn also nicht gekannt, wandte sich einer der Polizisten nun an Isabelle. Nein, sagte diese und musste nochmals erzählen, was vorgefallen war, und obwohl sie beteuerte, sie habe mit dem Verstorbenen nicht das geringste zu tun,
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