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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition)
Autoren: Franz Hohler
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so bekümmert drein, dass sie sich keinen davon vorstellen konnte.
    Dennoch blieb sie sitzen, hörte sich das schleppende Orgelspiel und die Worte des Pfarrers über Gott, den Allmächtigen und seinen Ratschluss an, sowie den Lebenslauf des pensionierten Schulhausabwarts Gemperle, der immer ein offenes Ohr für die Anliegen der Lehrer und Schüler hatte, sie erhob sich zum Vaterunser, und als das »Jodelchörli Alperösli« zu singen anhub, musste Isabelle, die Jodelmusik nicht mochte, auf einmal mit der Rührung kämpfen. Sie stellte sich den cholerischen Schulhausabwart vor, wie er einmal pro Woche mit seiner städtischen Unzufriedenheit in den Scheinfrieden der ländlichen Dreiklänge abtauchte, und sah darin die unerfüllte Sehnsucht jedes Menschen nach einer harmonischen Welt.
    Am Ende der Feier, als die Familie zum Ausgang schritt, ließ Isabelle nochmals verstohlen ihren Blick über alle Männer gleiten und fühlte sich in ihrem anfänglichen Urteil bestätigt.
    Danach suchte sie ein Café in der Nähe auf, bestellte ein Stück Käsewähe und eine Apfelschorle und blätterte sorgfältig die beiden Tageszeitungen durch, aber weder fand sie eine Notiz über das gestrige Ereignis, noch war ein Foto des Toten abgebildet. Der Grund war wohl: Es war kein Verbrechen, es war auch kein Unfall, es war einfach ein Todesfall, ein außergewöhnlicher zwar, ein AGT, aber doch war da jemand ganz von selbst gestorben, ohne dass jemand anderes in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Niemand, außer ihr. Und wenn kein Foto mit einem Aufruf veröffentlicht wurde, hieß das wohl, dass die Identität des Mannes inzwischen geklärt war.
    Das war Isabelle recht so, denn die Mappe und das Handy des Toten lagen immer noch bei ihr zu Hause. Beim Gedanken, sie müsse ihre Wohnung nochmals verlassen, hatte gestern Abend eine solche Trägheit von ihr Besitz ergriffen, dass sie sich sagte, morgen sei es noch früh genug, aber heute trieb sie die Neugier auf den Friedhof.
    Kurz vor halb zwei stand sie wieder vor der Kapelle.
    Gerade stiegen die Angehörigen aus einer Limousine, ein gut sechzigjähriges Ehepaar, die Frau, die sich ein Taschentuch vors Gesicht hielt, wurde von einer jüngeren Frau getröstet, während eine andere junge Frau wie ver steinert vor dem Portal stehen blieb und ein älterer Mann zwei Kinder an die Hand nahm. Isabelle wartete, bis sie hineingegangen waren und trat dann auch ein. Alle Sitzbänke waren besetzt, sodass Isabelle an der Rückwand stehen blieb.
    Da war ein junger Arzt einer heimtückischen Krankheit erlegen, und der Geistliche gab sich die größte Mühe, den tapferen, verlorenen Kampf gegen den Tod in einen Sieg umzudeuten, einen Sieg des Lebens durch Jesus Christus, unsern Herrn, Amen. Eine Band war da, in welcher der Verstorbene auch eine Zeit lang mitgemacht hatte, die Musiker hatten sich vorne aufgestellt und spielten »Summer of ’69« von Bryan Adams, und bei der Zeile »Those were the best days of my life« musste sich der Sänger umdrehen und die Augen wischen, bevor er mit Mühe weiterfahren konnte, und auf den Bänken wurden Taschentücher herausgezogen, ein Schneuzen ging durch den ganzen Saal, die junge Witwe des Arztes beugte sich vor und schluchzte hemmungslos, und das alles war so traurig, dass auch Isabelle, die niemanden kannte, die Tränen herunterliefen, und sie vergaß, dass sie sich über die salbungsvollen Worte geärgert hatte, und sie vergaß, dass sie gekommen war, um nach einem anonymen Anrufer Ausschau zu halten und weinte mit allen andern über die Vergänglichkeit.
    Die Kapelle hatte sich geleert, es war schon 15 Uhr vorbei, die Zeit für die letzte Abdankung, und Isabelle saß als Einzige da. Ein Friedhofsdiener kam, um die Tür zu schließen, sie fragte ihn nach der Feier für Meier Mathilde und bekam zur Antwort, die finde direkt beim Grab statt, Erdbestattung Abschnitt D.
    Isabelle beeilte sich, dorthin zu kommen, fand sich nicht gleich zurecht im Gräberlabyrinth und entdeckte schließlich ein kleines Grüppchen im Halbkreis an einer offenen Grube. Sie verlangsamte ihre Schritte und blieb vor einem frischen Grab stehen, von dem aus sie zur Beerdigung hinübersah. Der Pfarrer warf mit den Worten »Erde zu Erde« eine kleine Schaufel voll Erde, die er aus einer bereitgestellten Schale genommen hatte, auf den Sarg, und nach ihm ergriffen zwei Männer aus der Gruppe die Schaufel ebenfalls und taten es ihm gleich. Ein dritter Mann wollte nicht, die vier Frauen standen
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