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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition)
Autoren: Franz Hohler
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Männerstimme, »wo ist Marcel?«
    »Sagen Sie mir, wer Sie sind«, antwortete Isabelle. Ihre Stimme zitterte ein wenig.
    »Wir wollen ihn morgen im Nordheim nicht sehen. Sag ihm das.«
    »Es ist so, dass –«. Die Verbindung brach ab.
    Isabelle öffnete das Symbol »Anrufe«, und es erstaunte sie nicht, dass auch dieser Anruf anonym war. Jetzt erst erblickte sie noch drei weitere Anrufe, aber auch die waren alle anonym. Außer einem, der hatte statt des blauen Pfeils einen roten. Eine Festnetznummer. Sie holte sich den Block aus dem Wohnzimmer und schrieb sie auf. Sie rief nochmals ihre Tochter an, um sich erklären zu lassen, was die roten und blauen Pfeile bei »Anrufe« bedeuteten.
    Es war kurz vor 18 Uhr. Isabelle schloss ihren Fernsehapparat wieder an, dessen Stecker sie vorsichtshalber herausgezogen hatte, und schaltete den Lokalsender ein. Vielleicht, dachte sie, kam eine Nachricht über den Todesfall oder ein Aufruf mit seinem Bild. Aber nichts dergleichen, Querelen über das neue Fußballstadion, Beginn der Gerichtsverhandlung wegen eines Milliardenkonkurses, eine der größten Pensionskassen auf Schleuderkurs, eine Musicalpremière und das Wetter, schön und ungewöhnlich mild für die Jahreszeit.
    Bei der Pommes-Chips-Werbung schaltete Isabelle aus und lehnte sich zurück.
    Marcel hieß er also, der höfliche Herr, der so unhöfliche Bekannte hatte.
    Das Nordheim, wo sie ihn nicht sehen wollten, war der große Friedhof in Oerlikon. Nein, sie würden ihn morgen bestimmt nicht sehen, aber sie wussten noch nicht, warum. Eines seiner nächsten Ziele war wohl eine Beerdigung gewesen, und nun musste er selbst beerdigt werden.
    Nach kurzem Nachdenken wählte sie die Festnetznummer, die sie sich aufgeschrieben hatte. Der rote Pfeil hieß, dass er selbst versucht hatte, dorthin anzurufen. Im Hörer, den sie an ihr Ohr presste, spürte sie ihren Pulsschlag, der schneller ging.
    Die Frauenstimme eines Telefonbeantworters hieß sie auf der Stadtverwaltung Uster willkommen und gab ihr die Öffnungszeiten bekannt. Vielleicht wollte er nach Uster fahren, auf dem Gleis nebenan.
    War es ein neues Gerät, da er erst einmal angerufen hatte? Oder ein ausgeliehenes? Oder hatte er die Anrufe gelöscht? Und was ging sie das überhaupt an? Hatte das alles irgendetwas mit ihr zu tun, außer dass sie zufällig bei seinem Tod zugegen gewesen war?
    Sie rief sich nochmals die kurze Begegnung mit ihm in Erinnerung, hörte ihn »Zum Flughafen?« sagen, sah ihn einknicken und am Boden aufschlagen und traf dann seinen sterbenden Blick. Aber er hatte ja noch etwas gesagt, »Bitte …«, hatte er gesagt, bevor er verstummte. Er wollte sie um etwas bitten. Worum denn um Himmels willen? Und warum gerade sie?
    Isabelle ging ins Badezimmer. Das Handy war fertig geladen. Sie zog den Stecker heraus und legte den Apparat in die Mappe, die im Korridor auf einem Stuhl lag. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und nahm eine Jacke vom Bügel. Ob sie zum Polizeiposten Oerlikon sollte oder auf die Hauptwache in der Stadt?
    Nach einer Weile zog sie Jacke und Schuhe wieder aus und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer.

4
    Es gab an diesem Tag drei Beerdigungen auf dem Friedhof Nordheim.
    Um Viertel nach 10 Uhr setzte sich Isabelle gleich neben dem Mittelgang auf die hinterste Bank der Friedhofskapelle und wartete auf die Trauerfeier für Isidor Gemperle. Es saßen schon etliche schwarz gekleidete Menschen da, vor allem alte, Isabelle kannte das, sie hatten immer Angst, zu spät zu kommen und waren deshalb viel zu früh. Vorn stand die Urne, von Blumengestecken und Kränzen umgeben, in einem Ständer steckte auch eine Fahne mit rotgoldenen Borten, aber wegen ihres Faltenwurfs waren nur die Wortfragmente »delchö« und »perö« zu lesen, worauf sich Isabelle keinen Reim machen konnte, es hörte sich am ehesten ungarisch an; vielleicht hatte der Verstorbene den Flüchtlingen geholfen, die seinerzeit nach dem gescheiterten Aufstand in großer Anzahl in die Schweiz gekommen waren, wie die alten Szabos, die Nachbarn ihrer Jugendzeit?
    Auf der Empore hörte man Menschen murmeln und tuscheln, da war offenbar etwas in Vorbereitung, aber Isabelle konnte von ihrem Sitzplatz nicht hinaufsehen. Vereinzelt kamen Leute herein und nahmen in den Bänken Platz, Lücken gab es mehr als genug, und als nun die Trauerfamilie eintrat, suchte sie Isabelle nach einem Gesicht ab, das sie mit dem Anrufer verbinden konnte, doch die zwei Männer, welche die Witwe stützten, blickten
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