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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition)
Autoren: Franz Hohler
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bekam zu essen und ein Nachtlager, blieb manchmal zwei oder drei Tage und verdiente sogar etwas Geld.
    Gut brauchen konnte ich zwei Sätze aus dem Französisch-Lehrbuch, über die wir immer gelacht hatten: »Je fais un voyage. Je veux voir la France.« Das war für uns in der Anstalt etwa so weit weg, wie wenn wir gesagt hätten, wir fliegen auf den Mond.
    Und noch ein Satz war ganz gut: »J’ai commencé un apprentissage«. Ich hatte ihn ein bisschen umgeändert in »J’ai fini un apprentissage«. Das stimmte zwar nicht, aber es machte die ersten beiden Sätze etwas wahrscheinlicher. Das gab es doch wohl, dass man nach der Lehre eine kleine Reise machte, bevor man eine Stelle antrat.
    Marseille hatte ich in fünf Wochen erreicht, ohne ein einziges Mal kontrolliert worden zu sein, vielleicht war einer wie ich zu unwichtig für einen internationalen Haftbefehl.
    Im Hafen von Marseille versuchte ich möglichst zielbewusst herumzugehen, als hätte ich etwas ganz Bestimmtes im Sinn. Das hatte ich auch, ich suchte ein Schiff nach Kanada, auf dem ich anheuern konnte. Als ich den Pier gefunden hatte, an dem zwei kanadische Frachtschiffe angelegt hatten, hielt mich einer von der Hafenaufsicht an und fragte mich, was ich wolle. Ich nahm allen meinen Mut zusammen, zeigte auf die Schiffe und sagte, man brauche mich dort, »ils ont besoin de moi.«
    Ob ich der Heizer sei, fragte mich der Aufseher, »c’est toi, le chauffeur?« Als ich nickte, ohne das Wort genau zu verstehen, wies er mich zum Schiff »St.Lawrence 2«. Dort war ein Heizer mit einer Blinddarmentzündung ausgefallen, und das Schiff sollte in derselben Nacht auslaufen. Man nahm mich, ohne viel zu fragen. Der erste Heizer wies mich in seine Arbeit ein, die ich rasch begriff. Ich war Kohleträger, Kohleschaufler, Temperaturableser, Blasbalgbursche, »Gangmerlängmerholmer«, wie man in der Schweiz für einen sagte, der alles machen musste, was ihm befohlen wurde. Und ich machte alles, ich arbeitete um mein Leben. Meine Arbeitskollegen nützten mich aus, wo es ging, es war mir egal. Ich musste eine Kajüte irgendwo im Unterdeck mit drei andern teilen, die mich bei jeder Gelegenheit schikanierten. Das erste Ziel des Frachters war Argentinien, wo Ladung gelöscht und neue Ladung für Kanada aufgenommen werden musste. Der erste Sturm, von dem das Schiff geschüttelt wurde, zeigte mir, dass mir die Seekrankheit nichts anhaben konnte. Es war, wie wenn mich die gewonnene Freiheit davor schütze. Als es einen meiner Zimmerkollegen erwischte, der erst zum zweiten Mal auf See war, brachte ich ihm Suppe und Tee ans Bett. Ich half ihm, die durchgeschwitzte Wäsche zu wechseln und putzte das Gekotzte auf. Von da an wurde ich besser behandelt.
    Einmal berichtete ein Mechaniker, er sei zum ersten Schiffsoffizier gerufen worden, weil ein Schlüssel zu einem Dokumentenschrank verloren gegangen sei. Es sei ihm verdammt noch mal nicht gelungen, das Schloss zu öffnen, der Lohn wäre eine Flasche Whisky gewesen. Da fragte ich ihn, ob er mich zum Offizier bringen könne, damit ich für sie alle die Flasche hole. »Je suis serrurier«, sagte ich, »ich bin Schlosser.«
    Ich durfte mit ihm nach oben in die Offizierskombüse, schaute mir das Schloss an und besorgte mir dann beim Mechaniker in der Werkstatt die Werkzeuge, die ich brauchte. Nach einer halben Stunde hatte ich das Schloss geöffnet, ohne irgendetwas zu beschädigen.
    Der Offizier hielt sein Versprechen. Ich brachte die Flasche nach unten. Sie machte nun die Runde. Als sie zu mir kam, musste ich nach dem ersten Schluck furchtbar husten, und die andern lachten wieder einmal über mich. Trotzdem war ihr Respekt vor mir gestiegen.
    Es dauerte sechs Wochen, bis wir in Montréal eintrafen. Schon während der Überfahrt war klar geworden, dass man mich gar nicht hätte an Bord nehmen dürfen. Es passierte aber offenbar immer wieder, dass sich die verantwortlichen Mannschaftsoffiziere über die Vorschriften hinwegsetzten, damit sie eine Personallücke schliessen konnten. Der Offizier, dem ich das Schloss geöffnet hatte, hatte an mir Gefallen gefunden und erwirkte beim Immigrationsoffizier des Hafens, mit dem er befreundet war, dass ich einen temporären Aufenthalt bekam, bis der Frachter in fünf Tagen wieder auslaufen sollte. Er gab mir auch den Tip, mich beim Mannschaftsoffizier der St.Lawrence-Schiffahrt zu melden. Für den gab er mir eine Empfehlung mit, zusammen mit dem Tip, mich nicht mehr bei der Hafenimmigration sehen zu
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