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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition)
Autoren: Franz Hohler
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Frau Isabelle nicht Stationsleiterin wäre, ginge es mir sicher schlechter, mit der könne ich es besonders gut, und die vertrage auch ein Späßchen.«
    Véronique wollte wissen, seit wann sie Martin kenne, und Isabelle übersetzte es Frau Maurer.
    »Unsere Mutter, also die Mutter von Mathilde und mir, starb jung, und kurz danach hat meine Schwester den Christian geheiratet, der hatte einen Bauernhof oberhalb von Uster, und ich war noch nicht volljährig und kam einfach mit und half im Betrieb, und da war eben der Marcel als Verdingbub, weil er keine Mutter und keinen Vater hatte, und es haben ihn alle schlecht behandelt, vor allem der Christian, aber auch meine Schwester, weil sie sich nichts getraute gegen den Christian, und die beiden Brüder auch. Ich habe ihm manchmal etwas zugesteckt, wenn es niemand sah, und ich hab ihn dann auch einmal besucht, als er in die Anstalt musste.«
    Sarah beugte sich vor. »Wieso musste er in die Anstalt?«
    Frau Maurer atmete tief ein und griff sich mit der rechten Hand an die Stirn. »Ich hab solches Kopfweh.« Und nach einer Pause fuhr sie weiter: »Also, das war die schlimme Geschichte, als Christian verunglückte. Ein Sonntagsausflug auf den Großen Mythen. Mathilde wollte nicht mit auf den Gipfel und blieb im Bergrestaurant unten sitzen, und so blieb ich bei ihr. Und nach zwei Stunden kam Alfons heruntergerannt und sagte, der Vater sei ausgeglitten und abgestürzt und man solle die Rettungskolonne alarmieren.«
    »Aber – die Anstalt?« Sarah war an die äußerste Kante des Bettes gerutscht.
    Frau Maurer schüttelte den Kopf.
    »Konrad sagte der Polizei, Marcel habe seinen Pflegevater am Bein gepackt und absichtlich hinuntergestoßen, um sich an ihm zu rächen. Darauf kam die Sache vors Jugendgericht. Es gab nur einen Zeugen, der gesehen hatte, dass Marcel Christians Bein hielt, aber der meinte eher, er habe ihn halten wollen. Man hat Marcel nicht verurteilt, aber misstraut hat man ihm trotzdem, denn Verdingkinder hatten einen schlechten Ruf, und weil sie nicht wussten, was sie mit ihm machen sollten, hat ihn sein Vormund in die Anstalt geschickt.«
    »Und der durfte das?« Sarah war aufgestanden.
    Frau Maurer nickte. »Ja. Die durften alles.«
    Als Isabelle Véronique zusammenfasste, was sie soeben hörte, brach diese in Tränen aus und sagte, was sie schon Sarah gesagt hatte, nämlich sie sei sicher, dass Marcel den Pflegevater retten wollte.
    Isabelle übersetzte das Frau Maurer, und die sagte, ja, da sei sie auch sicher, mehr als das, sie wisse es.
    » Was weißt du?«
    Die Tür war, von allen unbemerkt, aufgegangen, und auf der Schwelle stand, in seiner braunen Jacke und seinem braunen Filzhut, mit einer kleinen Mappe in der Hand, Konrad Meier.
    Er schloss die Tür hinter sich zu und blickte von einer zur andern. »Da seid ihr ja alle.« Und zu Véronique: »Und Sie sind Marcels Frau?«
    Véronique brauchte keine Übersetzung und nickte.
    »Marcel tot? Dead man?«
    »Glauben Sie’s doch endlich«, sagte Isabelle, stand auf und stellte sich neben Véronique.
    »Muss ich wohl. Das war er, nicht?« Er zeigte auf das Foto auf dem Nachttischchen.
    »Ja«, sagte Isabelle, »das war er.«
    »Ist für mich auch ein Stuhl frei?« Er wollte sich neben Frau Maurer setzen, doch die fuhr auf und herrschte ihn an: »Nein. Du bleibst stehen!«
    »Oho, geht man so mit Besuchen um, die sehen wollen, wie’s einem geht?«
    »Du bist kein Besuch, Konrad. Du bist der Angeklagte.«
    »Halt den Mund.«
    »Den hab ich lang genug gehalten.«
    »Dann geh ich wohl lieber.«
    Er drehte sich um, aber Sarah war vor die Tür getreten. »Uns interessiert es aber, was Frau Maurer zu sagen hat.«
    Meier stellte seine Mappe ab, suchte das Zimmer nach einer andern Sitzgelegenheit ab, ging rückwärts auf das Fenster zu und lehnte sich an den Sims.
    »Dein Vater war jähzornig, Konrad, das wussten wir alle. An jenem Sonntag ging er zuvorderst, blieb dann stehen, bis ihr nachkamt, und brüllte euch an, ihr sollt schneller gehen, ihr faulen Kerle. Da gabst du ihm einen Faustschlag ins Gesicht, dass er hinfiel und über den Wegrand hinabstürzte, und Marcel wollte ihn noch am Bein halten, musste ihn aber fahren lassen. Du hast ihm gedroht, du bringst ihn um, wenn er das verrät, und er hat es niemandem gesagt, auch der Polizei nicht. Er wusste ja auch, dass man einem Verdingbub nicht geglaubt hätte.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Mir hat er es erzählt, als ich ihn in der Anstalt besuchte, und ich
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