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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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Kapitel 1
    Rio de Janeiro, 1936
    Präsident Vargas hing eingerahmt an der Wand der Polizeiwache und ließ Max nicht aus den Augen.
    »Was wollen Sie von mir?«, jammerte der Arme. Gab es Probleme mit den Papieren, den Stempeln, den Siegeln? Gerade er, wo er doch so ordentlich und so vorsichtig war. »Dringende Vorladung«, war die Erklärung des Polizisten gewesen, als er ihn zu Hause abgeholt hatte. Vorladung von wem, warum? Vor mehr als einer Stunde hatten sie ihn in diesen schrecklichen Raum gesperrt und ihm nicht mal ein Glas Wasser angeboten.
    Tausende von Einwanderern, die vor Kriegen, Diktaturen und Armut geflüchtet waren, lebten in der Angst, zurückgeschickt zu werden, falls sie sich nicht linientreu verhielten. Und das Paradoxe war: Jedes Jahr kamen massenweise Neue an der Praça Mauá an, teilweise ohne die geringste Vorstellung von diesem Ort, von dem andere noch nicht einmal gehört hatten. Für die meisten war Brasilien ein Sumpf, in dem Bananen wuchsen und einem, wenn man nicht aufpasste, Schlangen um die Füße krochen.
    Hinter der Tür waren Schritte und undeutliche Stimmen zu hören. Auf der Wache herrschte die übliche Routine: Festnahmen, Inhaftierungen, Verhöre. 1935 hatte ein Umsturzversuch der Kommunisten das Land in beispielloses Unheil gestürzt. Schlagstöcke verwüsteten Wohnungen, Betriebe, Geschäfte und alles, was für die Bluthunde von Polizeichef Major Filinto Müller nach Subversion roch. Ein Sondergericht erledigte den Rest und verurteilte kurzerhand die halbe Welt, ohne sich mit den gängigen Verzögerungen durch die Justiz aufzuhalten. Von Norden bis Süden waren die Gefängnisse überfüllt. Selbst Schiffe trieben, beladen mit Gefangenen, ziellos im Atlantik. Max sah sich bereits auf hoher See als Gringo beschimpft und kalten Reis essen. Aber was hatte er denn eigentlich getan?
    In der Rua Visconde de Itaúna fiel der kleine Laden kaum auf, den er jeden Morgen pünktlich um sieben Uhr öffnete, um mit der gleichen Hingabe wie seine Vorfahren die Schuhe der Bewohner der Praça Onze zu reparieren. Für den Großvater erklärte sich der Beruf aus dem Los der Familie als ewig umherirrender Juden: Gute Schuhe bezwangen Kälte und Entfernungen. Und was anderes hatten die Juden denn in den letzten Jahrtausenden gemacht, als durch die Weltgeschichte zu irren und der nächsten Vertreibung zuvorzukommen? Wie viele »dringende Vorladungen« hatten seine Vorfahren in Russland, Spanien oder auch hier, im Lande Vargas’, nicht schon über sich ergehen lassen?
    Nein, Max machte ihn nicht für die Spannungen imLand verantwortlich. Wie sollte er Ursachen aufzeigen, wo alles Konsequenz war? Die Welt hatte den falschen Weg eingeschlagen und Brasilien mit hineingezogen. Für den Schuhmacher war Vargas nicht mehr als ein Diener, kein Führer, sondern ein Geführter, Futter für eine Kanone, die im Laufe der Jahrhunderte geschmiedet worden war. Man konnte von keinem Einzelnen erwarten, einen Schlamassel zu lösen, der lange angefangen hatte, bevor Hitler seinen Irrsinn proklamierte und Stalin die eigenen Verbündeten auslöschte. Weniger entschuldbar waren die städtebaulichen Vorhaben des Präsidenten. Gerade erst war die Rede vom Bau einer breiten Avenida zwischen der Marine und Cidade Nova gewesen, was das Ende seiner geliebten Praça Onze bedeutete. Oj wej, das fehlte gerade noch: Das ganze Viertel würde dem Erdboden gleichgemacht.
    Ein Ventilator surrte nervös, die Uhr zeigte halb fünf. Zum ersten Mal hatte Max den Laden früher geschlossen. Was würden die Kunden sagen, die Klatschmäuler, die Verkäufer, die von Tür zu Tür zogen, die Nachbarinnen, die ihm guten Tag sagen kamen, oder die Eiferer mit ihren verrückten Ideen? Wer hätte sich vorstellen können, dass der Schuhmacher aufgrund einer »dringenden Vorladung« auf der Polizeiwache saß? Jeder wusste, dass es für Max nichts anderes gab als seine Schuhe und er den Kontroversen innerhalb der Gemeinde nie etwas hatte abgewinnen können. Kommunismus oder Kapitalismus? Israel oder Diaspora? Jiddisch oder Hebräisch?Das alles kümmerte ihn nicht. Erst vor ein paar Tagen hatte er einen Kommunisten mit Mütze und Overall beschimpft, der vor seinem Ladentisch gestanden und ihn hatte anwerben wollen. Mit erhobenem Zeigefinger hatte er erwidert:
    »Wenn Sie die Welt verbessern wollen, lernen Sie erst mal, Ihre Schuhe zuzubinden!« Und dann war ihm das Gleichnis von Rabbi Sussja eingefallen, der ebenfalls als junger Mann die Welt hatte
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