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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition)
Autoren: Franz Hohler
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Bergwirtschaft, wo eine Rettungskolonne alarmiert wurde.
    Der ältere Sohn, Konrad, der zugeschlagen hatte, behielt mich zurück und sagte: »Du hast nichts gesehen, hörst du? Der Vater ist ausgerutscht. Ein Wort von dir, und es geht dir gleich wie ihm.«
    Es dauerte einige Stunden, bis der Verunfallte tot geborgen werden konnte. Ein Bergführer musste sich bis zu dem Absatz abseilen lassen, auf dem er lag.
    Den Faustschlag hatte niemand sonst gesehen. Aber es gab einen Zeugen, der gerade um die Wegbiegung kam, als ich das Bein des Pflegevaters losliess. Der Bezirksanwalt kam zusammen mit der Rettungskolonne und befragte uns über den Hergang. Ich sagte, der Vater sei ausgeglitten und auf mich zugerutscht, und ich habe ihn halten wollen. Das stimme nicht, sagte Konrad, Vater habe zu mir hingehen wollen, weil ich nicht schnell genug gegangen sei, und da habe ich ihn einfach am Bein gepackt, und deswegen habe Vater das Gleichgewicht verloren und sei hinuntergestürzt. Ich war entsetzt. Ich weinte und sagte, ich habe ihn nur halten wollen. Der Zeuge sagte zwar, das mit dem Packen habe er nicht gesehen, nur dass ich ihn am Bein hielt, aber natürlich sei alles eine Sache von Sekunden gewesen.
    Ich war damals 15, es kam zu einer Verhandlung vor dem Jugendgericht, die keine Klärung brachte. Ich sagte nichts vom wirklichen Hergang, man hätte mir das ohnehin nicht geglaubt. Verurteilt wurde ich nicht, aber trotzdem kam ich in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche.
    Solche Heime wurden damals meist von Sadisten geleitet. Meines bildete keine Ausnahme. Man behandelte uns alle als Kriminelle, schlug uns und sperrte uns beim geringsten Anlass bei Wasser und Brot in eine Dunkelzelle. Gut, dachte ich, dann werde ich eben kriminell.
    Einmal fragte ich, wo eigentlich meine Dokumente seien, ich wüsste gern, wer meine Eltern gewesen sind. Die Auskunft war: Da musst du deinen Amtsvormund fragen. Diesen Vormund hatte ich bis jetzt erst zweimal gesehen, einmal bei seiner Ernennung auf dem Vormundschaftsamt nach dem Tod des Pflegevaters, das zweite Mal, als er nach einem Jahr für fünf Minuten zu Besuch in die Anstalt kam. Ich schrieb ihm einen Brief mit der Frage nach meinen Dokumenten und erhielt die kurze Antwort, die bekomme ich, wenn ich zwanzig sei, und vorher gingen sie mich nichts an.
    Von dem Moment an begann ich, meine Flucht zu planen.
    Ab und zu erhielt ich von Tante Elsa ein Paket mit einigen Esswaren. Das musste ich aber immer mit den andern teilen. Einmal besuchte sie mich, und ich durfte mit ihr allein eine Stunde unter den Bäumen des Vorplatzes zusammensitzen. Da erzählte ich ihr die Geschichte vom Tod des Ziehvaters, wie sie sich wirklich abgespielt hatte. Tante Elsa fuhr mir mit der Hand über den Kopf und sagte nur: »Armer Bub.«
    Mehrmals musste ich zur Strafe an einem Samstagnachmittag, wenn die andern Fussball spielen durften, in der Wäscherei arbeiten. In einem grossen Spind wurden unsere privaten Kleider aufbewahrt. Da gelang es mir, ein Hemd, eine Hose und eine Jacke meiner Grösse zu entwenden und unter meiner Matratze aufzubewahren.
    Es hatte schon mehrere Ausbruchsversuche von anderen gegeben. Alle ohne Erfolg. Gewöhnlich waren sie von der Feldarbeit abgehauen, und wenn man sie nicht sofort einholte, wurden sie nach kurzer Zeit irgendwo in der Umgebung gestellt.
    Ich machte eine Schlosserlehre, das war eine der zwei Möglichkeiten in der Anstalt. Die andere war Schreiner, was mir lieber gewesen wäre, doch dort waren die Lehrplätze schon alle besetzt. Mein Auge hatte ich von Anfang an auf die Schlösser gerichtet, und so gelang es mir in der Nacht vor Pfingsten, vom Gang auf die Toilette nicht mehr zurückzukommen und die Anstalt durch die geschlossene Lieferantentüre zu verlassen. Es war auch kein Problem, eines der abgeschlossenen Fahrräder aus dem Schuppen davor zu entwenden. Ich zog mir in aller Ruhe die Anstaltskleider aus und die gestohlenen Privatkleider an. Dann klemmte ich die Anstaltskleider auf den Gepäckträger und fuhr ein Stück in die entgegengesetzte Richtung von Uster, bis ich zu einem kleinen Fluss kam, in den ich sie hineinwarf. Dann kehrte ich um und fuhr nach Uster. Mit Hilfe meiner Kenntnisse und einer Taschenlampe, die ich aus dem Werkschrank der Schlosserei genommen hatte, drang ich in das Gem eindehaus ein. An das Büro der Vormundschaftsbehörde erinnerte ich mich. Sorgfältig öffnete ich die abgeschlossenen Aktenschränke. Unter dem Buchstaben »W« fand ich die
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