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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition)
Autoren: Franz Hohler
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wollte er ihre Personalien, ihre Adresse mit E-Mail, Telefon und Handy-Nummer sowie die Nummer ihres Arbeitgebers wissen und bat sie, sich noch für eine Befragung zur Verfügung zu halten.
    Dann sprachen fast alle gleichzeitig. Die Sanitäter fragten, ob sie aufbrechen konnten oder ob sie den Toten gleich in die Gerichtsmedizin bringen sollten, die Ärztin wollte wissen, ob der Totenschein vom Amtsarzt erstellt werde, der eine der Polizisten versuchte diesen zu erreichen, der andere informierte die Fahndungsabteilung und fragte nach einem Bezirksanwalt, und als auf Gleis 5 wieder ein Schnellzug durchdonnerte und alle ihre Stimmen anhoben und sich die telefonierenden Polizisten mit einer Hand das freie Ohr zuhielten, nahm Isabelle ihren Rollkoffer und verließ unbemerkt und ohne sich zu verabschieden das Zelt.
    Auf Gleis 4 war der nächste Zug zum Flughafen angekündigt, er kam zwei Minuten später, und Isabelle stieg ein. Erst als sie drin war, merkte sie, dass die kleine Mappe noch auf ihrem Koffer lag. Unmut stieg in ihr auf, und da sie ihren Flug nicht verpassen wollte, ging sie nicht nochmals zurück ins Zelt, sondern öffnete den Reißverschluss ihres Koffers und schob die Mappe hinein.
    Wie viel Zeit sie mit dem Zwischenfall verloren hatte, wurde ihr erst klar, als man ihr am Check-in-Schalter bedauernd sagte, ihre Maschine sei bereits gestartet.

2
    Isabelle saß an ihrem Küchentisch, hob das Säcklein mit dem Verveinetee aus der Tasse, wusste nicht, wohin damit, stand auf und legte es auf das Abtropfbrett der Spüle, setzte sich, sah die Tropfspur auf dem Tisch, stand wieder auf und riss ein Haushaltpapier von der Rolle, wischte die Tropfen auf, zerknüllte es und legte es neben sich, rührte mit dem Löffel den Zucker um und nahm dann einen Schluck.
    Eigentlich müsste sie jetzt in Neapel sein, unterwegs zum Hafen, wo die Aliscafi nach den Liparischen Inseln anlegten. Am Schalter der Airline hatte sich herausgestellt, dass die nächsten möglichen Flüge alle entweder über Frankfurt, Amsterdam oder Paris gingen, mit langen Wartezeiten, und Neapel so spät erreichten, dass sie dort übernachten müsste und erst tags darauf ein Boot nehmen könnte. Dazu fühlte sie sich nicht in der Lage und hatte sich von einem Taxi nach Hause bringen lassen. Schon nur der Gedanke, zuerst nordwärts fliegen zu müssen, um in den Süden zu gelangen, hatte sie entmutigt.
    Dann war sie nochmals zum Bahnhof gegangen.
    Das Zelt war noch da, und einer der jungen Polizisten stand davor und war sehr froh, sie zu sehen. Er hätte sie nicht gehen lassen dürfen, sagte er und bat sie in das gläserne Wartehäuschen auf dem Perron, aus dem er ein älteres Paar hinausschickte. Als er sich entschuldigte und sagte, das sei eben sein erster AGT , tat er Isabelle fast ein bisschen leid. Was denn ein AGT sei, fragte sie. Ein außergewöhnlicher Todesfall, und dann musste sie nochmals erzählen, wie sich dieser genau abgespielt hatte. Der Polizist schrieb auf einem Formular mit, das er auf einer Mappe auf den Knien hatte, ihre Personalien waren schon eingetragen, die Leute, welche draußen auf ihre Züge warteten, warfen neugierige Blicke hinein, und zuletzt unterschrieb Isabelle das Befragungsprotokoll.
    Nun saß sie wieder zu Hause und nahm nochmals einen Schluck Tee. Auf einmal war sie unglaublich müde. Der Schrecken über den plötzlichen Tod, mit dem sie so unselig verkettet war, die Aufregung und die Enttäuschung über den verpassten Flug ließen sie spüren, dass ihre Gesundheit doch noch nicht so robust war, wie sie sich erhofft hatte. Wieso hatte sie den Ausdruck »postoperativ«, den sie in ihrem Beruf so oft benutzte, nicht auf sich selbst anwenden wollen? Auf einmal kam ihr die geplante Reise, auch wenn sie diese einfach um einen Tag verschieben würde, als krasse Überforderung vor. Was sie brauchte, war eine ruhige Zeit ganz in der Nähe, in Braunwald in den Glarner Bergen, oder am Vierwaldstättersee, in Weggis vielleicht, aber wenn sie schon nur an das Rütteln eines Tragflügelbootes bei unruhigem Wellengang dachte, wurde ihr halb schlecht.
    Sie nahm die Tasse, stellte sie in ihrem Wohnzimmer auf den kleinen Glastisch und legte sich mit einem Seufzer, der schon fast ein Stöhnen war, auf die Couch. Sie schloss die Augen und atmete tief. Gleich würde sie ihre Freundin anrufen müssen, und sie würde ihr nicht sagen, dass sie erst morgen komme, weil sie ihren Flug verpasst habe, sondern sie würde ihr sagen, dass sie
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