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Giftiges Grün

Giftiges Grün

Titel: Giftiges Grün
Autoren: Elsemarie Maletzke
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Marion nicht die Tochter von Rose war? Dass sie am Heroin hing. Und er? War er auch abhängig? Hatte er die Drogen besorgt? Gehörten auch die harten Sachen zum Männergold, zur Würze des Lebens? Eine kleine Aufhellung des Gemüts an den langen Winterabenden, oder ein nicht endender Horrortrip? Lina wusste, dass sie auch auf diese Fragen keine Antwort bekommen würde. Immer nur die halbe, nie die richtige Geschichte. Sie würde warten, bis es vorbei war und ihr Kopf wieder entschied. Dann würde sie ohne Zärtlichkeit an ihn denken können. Zumindest hoffte sie es. Sie wandte das Gesicht zum Fenster. Die Spitzengardinen wischten im Luftzug über den Boden und fielen matt zusammen; niemand war gekommen; niemand sprach.
    »Eines verstehe ich nicht, Tante Rose«, sagte sie schließlich, »warum war Onkel Heinrich so fest davon überzeugt, dass es kein Unfall und kein Selbstmord, sondern ein Verbrechen war? Warum hat er uns Dilettanten und sein ganzes Erbe darauf gesetzt, das zu beweisen?«
    »Ach, Kind«, sagte Tante Rose. »Henri kannte Marion nur als das fröhliche, unbeschwerte Mädchen, das höchstens mal an der Erdbeerbowle nippte. Natürlich hat sie mit ihm kokettiert, aber sie war ja noch so jung, gerade fünfzehn, und natürlich hat ihm das gefallen. Er fühlte sich für sie verantwortlich, aber er war wirklich mehr im Wald zu Hause als in der Welt, und es erschien ihm vollkommen undenkbar, dass sie nachts allein in den Park lief, ins Schwimmbecken fiel und ertrank. Oder sich das Leben nahm. Ihr Kleid lag am Beckenrand. Er hatte ihr nichts angetan. Ein Fremder musste ihr aufgelauert haben, ein entsprungener Wahnsinniger, ein ertappter Einbrecher, ein Mörder, der sie vergewaltigt und danach ins Wasser gestoßen hatte. So dachte er. Die Polizei hatte es aufgegeben, den Täter zu suchen, aber er konnte nicht vergessen. Er hat dreißig Jahre lang an ihn gedacht.« Sie lächelte traurig.
    »Die Vergangenheit ist eben etwas Bleibendes, nicht wahr? Henri hat versucht, mir seine Unschuld zu erklären, aber ich wollte seine Briefe nicht lesen. Stattdessen hatte ich Marion geglaubt, als sie ihn vor mir anklagte. Warum glaubt man einem aufgelösten Mädchen? Weil Mädchen schwach und Männer gewalttätig sind? Wie töricht, so zu denken. Nein, ich war es, die nicht zuließ, dass sein Name reingewaschen wurde. Am Ende habe ich sein Leben zerstört.« Sie neigte den Kopf. »Ich bin der Ansicht«, sagte sie leise, »dass Henris dreißigtausend Euro bei der Stiftung wilder Wald oder wie immer sie heißt, gut aufgehoben sein werden.«
    Sie wechselte einen langen Blick mit Johann. Er nahm ihre Hand und küsste sie.

    Sieben Wochen später starb Rose Bruant. Der Agapanthus war verblüht, aber Astern, Dahlien und Sonnenbräute schienen bereit, sich für die Gärtnerin in einen herbstlichen Farbenrausch zu stürzen. In der Speisekammer des Hotels Augusta standen frisch etikettierte Gläser mit Pflaumenmus, Brombeergelee und Stachelbeermarmelade auf den Borden.
    Lina hatte ihrer Mutter das Teegeschirr mit den Chinarosen versprochen, wenn sie noch einmal die Rezeption bewachen würde, und Berta war am Abend vor der Beerdigung widerspruchslos und mit einem großen Strauß erdig duftender messinggelber, tiefvioletter, rostroter und finsterbläulicher Blumen erschienen, der als letzter Gruß an Rose, die romantische Pastellgärtnerin gedacht war.
    Im Frühstückszimmer hatte Lina zuvor die Photos der buddhistischen Mönchsroben von der Wand genommen und statt ihrer das Porträt von Singer Sargent aufgehängt: die andere, die dunkle Rose, die dem Betrachter aus ihren Schlehenaugen ernst und erwartungsvoll entgegenblickte; vor ihr die Unordnung des Lebens, hinter ihr ein Vorhang aus schwerem Taft.
    An diesem Freitagmorgen zog Lina ihr schwarzes Kostüm an, stellte den Blusenkragen hoch, legte Bertas Blumenstrauß auf den Beifahrersitz und fuhr nach Straßburg. Ans Revers hatte sie einen Zweig Immergrün gesteckt. Es war ein nasser Tag und die meisten Trauergäste hatten sich unter dem Vorbau der Kapelle untergestellt. Die sich kannten, nickten einander schweigend zu, denn was ließ sich über den Tod einer Hochbetagten sagen, die eines Abends eingeschlafen und entgegen ihren Erwartungen am nächsten Morgen nicht wieder aufgewacht war. Die Gespräche handelten vom eigenen Tod, ob man in die Grube fahren oder verbrannt werden, ob man im Wald oder im Meer enden wollte und ob ein Baum oder ein Buchs oder gar nichts an die verschwundene
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