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Giftiges Grün

Giftiges Grün

Titel: Giftiges Grün
Autoren: Elsemarie Maletzke
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junges Mädchen in einem Kleid weiß wie Schnee und Haaren schwarz wie Ebenholz zeigte. Es hatte nicht die mindeste Ähnlichkeit mit der Gestalt, die ihr gegenüber am Tisch präsidierte. Die Disziplin von Jahrzehnten hielt Rose gerade, aber ihre Formen hatten nachgegeben. Augenlider, Wangen und Kehle hingen herab; die Ohrläppchen wurden von den Perlengehängen wie der Fuß einer Muschel in die Länge gezogen. Sie war so schön, dachte Lina. Wie werde ich erst aussehen, wenn ich alt bin? Wie ein Chamäleon. Rose hatte sich noch nicht ergeben. Lina fragte sich, ob sie ihre barbarische Maske – die balkengeraden Augenbrauen, die schwarzen Lider, der rote Mund – eigens für ihr Treffen aufgelegt hatte oder ob sie jeden Morgen diese Verwandlung vollzog.
    »Ich freue mich, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid«, begann Tante Rose und schloss Karl großzügig mit ein. »Ich habe euch hergebeten, weil wir über das Testament von Heinrich Weil sprechen müssen. Maître Migeot war in meinem Auftrag bei der Eröffnung dabei. Ich weiß also, worum es sich handelt. Henri wollte, dass Marions Tod noch einmal hervorgezerrt und der Mensch, der ihn verschuldet hat, zur Rechenschaft gezogen wird. Ich will es euch von vornherein sagen: Diesen Menschen gibt es nicht.«
    »Entschuldige, Tante Rose«, wurde sie von Karl unterbrochen. »Es gibt ihn wohl.«
    »Du wirst deine Meinung noch für dich behalten müssen, bis ich fertig bin«, erwiderte sie. »Aber vielleicht sollte ich an einem anderen Ende beginnen. Dem Ende von Buchfinkenschlag.«

    Sie hatte das Haus für eine lachhafte Summe verkauft. Es handelte sich eher um einen nominellen Preis, denn der Käufer war eine Stiftung, die sich für Drogenkranke einsetzte. Es gab genaue Absprachen zwischen Rose und der Stiftung. Buchfinkenschlag würde wieder aufgebaut und in ein Therapiezentrum verwandelt werden. Die vorwiegend jugendlichen Patienten sollten weitab von den Fallstricken der bösen Welt in gesunder Natur nützlicher Arbeit nachgehen. Zu ihrer Genesung würde das Roden der Wildnis, die Wiederherstellung des Tennisplatzes und des Schwimmbeckens, sowie die Anpflanzung eines neuen Zier- und Gemüsegartens beitragen – unter Anleitung des Fachpersonals.
    »Für dich, mon cher, wird dann kein Platz mehr sein«, sagte Rose und legte ihre weiße Hand auf Gerswillers braune Faust. »Ich bin sehr betrübt, aber du verstehst mich, nicht wahr?«
    Johann senkte den Kopf und Lina fühlte ihr Herz stocken. Rose hatte es gewusst. Bruant, Heinrich Weil und Johann hatten geglaubt, unter ihrer Nase zweifelhaftes Grünzeug anpflanzen und halluzinogene Substanzen fabrizieren und verkaufen zu können, ohne dass sie Wind davon bekam. Sie hatten sich getäuscht. Rose war im Bilde. Lina bewunderte die Eleganz und Ironie, mit der sie es Johann nun heimzahlte: seine Hexenküche – ein Drogentherapiezentrum.
    »Wir werden noch über Verschiedenes sprechen, auch über deine Zukunft. Ich bin sehr befreundet mit Dr. Munch, dem Direktor des Jardin Botanique der Universität, ein vortrefflicher Mann. Von ihm habe ich viel über die Behandlung der Pflanzen erfahren – etwas mehr als von meinem eigenen Gärtner. Théo Munch möchte dich kennenlernen, mon cher. Und nun zu dir, liebe Nichte.«
    Lina erwiderte den Blick aus den schwarz geschminkten Augen und legte die Hand in den Blusenausschnitt mit dem Zweig des kleinen Immergrüns. Sie erkannten sich. Sie würden Johann nicht preisgeben.
    »Du weißt, dass ich selbst keine Kinder habe«, fuhr Rose fort. »Nein – das hast du nicht gewusst? Marion? Sie war die Tochter von Alphonse, nicht meine. Eigenartig, ich dachte, das sei bekannt gewesen. Unsere Ehe war nicht mit Kindern gesegnet. Ich …« Sie drehte den Teelöffel in der Hand und legte ihn dann behutsam wieder auf die Untertasse.
    »Nun, wie auch immer: Du warst, wie es in Kitschromanen so treffend heißt, ein kleiner Sonnenschein. Henri hat sich immer auf dich gefreut, wenn du uns im Sommer besucht hast, und wenn es auch nicht den Anschein hatte, so warst du mir ebenfalls herzlich willkommen. Deine Eltern haben sich nicht sehr bemüht, mir ihre Ablehnung zu verbergen, aber davon wusstest du nichts. Wenn das Linchen da war, schienen wir selbst eine Familie zu sein.« Ihre Augen lächelten. »Erinnerst du dich an die Polizei im Walde?« Lina nickte:
    »Der Eichelhäher.«
    »Ganz recht. – Du musst jetzt nicht unruhig werden, Karl, wir kommen gleich zum Punkt. Nimm ein Kresse-Sandwich.
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