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Giftiges Grün

Giftiges Grün

Titel: Giftiges Grün
Autoren: Elsemarie Maletzke
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Fenster fiel Sonnenlicht in Bahnen auf ein Stück Stragula, unter dem sich die Dielen abzeichneten, auf Kartons und gestapelte Stühle, einen Kleiderschrank mit geschweiftem Giebel, Matratzen, die hochkant an der Wand lehnten, ein abgeschlagenes Bett aus glänzendem Mahagoni und einen Tisch, auf dem eine hölzerne runde Platte stand.
    Ungerufen stellte sich das Bild einer Frühstückstafel ein, auf der sich diese Platte wie ein langsames Karussell drehte, das Gelee und Brötchen in einem wie aus Silber gefalteten kleinen Korb zu ihrem Platz fuhr. Hoch oben an der Zimmerdecke wiederholte sich das Rund der Platte in einer Früchtegirlande aus buntem Stuck. Tante Rose saß darunter, eine schlanke Erscheinung mit schwarzem, hochgestecktem Haar und geraden Augenbrauen. Sie sah ungefähr so aus wie auf dem Bild, das im Salon hing und das Lina für eine Darstellung von Schneewittchen ohne die Zwerge hielt.
    Linas Erinnerung an Tante Rose war nicht sehr ausgeprägt. Anders als der Onkel tat sie nichts, was ein Kind interessierte. Sie achtete darauf, dass die Kleine das Besteck richtig hielt und mit der Gabel zierliche Bissen zum Mund führte. Die Katze der Köchin hatte Hausverbot, und als Lina sie hereinschleppte, wurde sie von der Tante getadelt. Tiere waren unreinlich. Manchmal sprach sie Französisch mit Onkel Heinrich, den sie Henri nannte, manchmal ging sie durch den Garten, schnitt Blumen ab und legte sie in einen Henkelkorb.
    Am Fenster stand der Onkel und erklärte Lina die Bäume im Park: eine Eibe, die hübsch mit glasig roten Beeren besteckt war. Warum durften nur die Amseln sie pflücken? Weil sie giftig waren und kleine Mädchen sterben mussten, wenn sie davon naschten. Eine Blutbuche. Konnte sie bluten? Eine Trauerweide. Warum war sie denn traurig? Ein Blauglockenbaum, dessen braune Früchte wie Vogelschnäbel aufgesperrt waren und klapperten. Schau, Linchen, ein Eichelhäher; die Polizei im Walde. Fing er die Räuber? Aber nein, er warnte nur die anderen Tiere, wenn Gefahr im Verzug war und hatte dem Onkel sogar eines seiner blauschwarzen Federchen für sein Hutband geschenkt. Die Erinnerung an ihn, der allein und unwirsch gestorben war, stieg wie dunkles Wasser in ihr auf.
    An der Wand neben der Tür hing ein Waschbecken, in dem die Tropfen des undichten Hahns eine rostrote Spur eingeätzt hatten. Auf dem Spiegel darüber klebten weiße Sprenkel von Zahnpasta oder Rasierschaum. Das war also sein Bad, ein Wasserhahn zwischen ausgedienten Möbeln und Kartons. Sie klappte die Pappdeckel auf, sah Stapel alter Zeitungen, darunter Ledereinbände. Vielleicht war etwas für Karl dabei.
    Dann wandte sie sich dem Kleiderschrank zu und zog die Türen auf. Wenn Karl dabei gewesen wäre, hätte sie einen passenden Laut der Überraschung geäußert oder wäre zurückgewichen. So stand sie nur still und hielt den Atem an. Im Schrank war alles anders. Auf den Borden lagen Stapel weißer Damasttücher, die in den Knickfalten vergilbt waren, schmalere, mit blauem Band umwickelte Packen von Servietten, silberne Kerzenständer, feines weißes Geschirr mit Rosenmuster, die Teekanne, die Zuckerdose und das Brotkörbchen, die sich mit dem Frühstückskarussell gedreht hatten, und zu Bündeln geschnürt das große Besteck; silberne Messer, so lang wie ein Kinderunterarm.
    Auf dem obersten Bord lagen ein abgegriffener und ein neuer Herrenhut; auf der Stange hingen Onkel Heinrichs waldfarbene Anzüge, sein Wintermantel und dazwischen etwas Rotes. Sie griff hinein und zog es samt dem Bügel heraus. Es war ein Sommerkleid aus schwarzer Seide mit Klatschmohnblüten, schmal und fließend mit halblangen an den Schultern gekrausten Ärmeln und stoffbezogenen Knöpfen. Lina hielt es unters Kinn, drehte sich zum Spiegel und schaute still eine Weile hinein. So etwas würde sie nie tragen. Du siehst furchtbar aus, sagte sie in Gedanken.
    Mit diesem stummen Satz hatte sie ihr Abbild begrüßt, seit sie es mit dem anderer kleiner Mädchen vergleichen konnte. Sie war blass und sommersprossig, ihr Gesicht dreieckig mit kleinem Kinn und kleinem Mund, einer Stupsnase und großen, vorstehenden blauen Augen. Sie hatte das Wort Augäpfel immer verabscheut, weil es sie so sehr an ihre eigenen erinnerte; helle Halbkugeln, die aus den Höhlen zu treten schienen. Karl hatte das schöne Haar und die gerade Nase der Weils geerbt. Er trug Hawaiihemden – heute blaue Papageien auf gelbem Grund – und ein tätowiertes Pik As auf dem Unterarm. Doch Lina war
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