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Gestern fängt das Leben an

Gestern fängt das Leben an

Titel: Gestern fängt das Leben an
Autoren: Allison Winn Scotch
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die kratzige Couch plumpsen und wartete darauf, dass er sich neben mich setzte und wir uns Wiederholungen von Emergency Room reinziehen konnten. Ich wollte unbedingt so tun, als würden wir es kein bisschen bereuen, die Einladung meines Vaters und seiner Freundin zu einer gemeinsamen Reise über Weihnachten ausgeschlagen zu haben.
    Jetzt lasse ich die Finger über die Seiten meines Terminkalenders gleiten, bis ich den heutigen Tag gefunden habe.
    Nichts. Die Seite ist komplett leer. Keine hilfreiche Notiz, die besagt, was genau ich eigentlich zu tun hätte. Ich blättere einen Tag weiter.
    Aha. Dort steht, dass mein Team bei DM&P sich morgen mit dem Vorstand von Coca-Cola trifft. Ich erinnere mich, dass ich in meinem alten (oder jetzigen?) Leben wochenlang an dem perfekten Slogan gefeilt hatte, dem Slogan, der mich irgendwann auf direkter Flugbahn in die Werbe-Stratosphäre katapultieren würde – von wo ich mit fliegenden Fahnen wieder abspringen würde, als ich im dritten Monat schwanger war und Henry meinte, wir sollten uns nun in Richtung Vorort trollen. (Das sind meine Worte, nicht seine. Ich glaube, er sagte damals mit pathetischer Stimme «uns aufmachen in grünere Gefilde», um unserem ungeborenen Kind eine gesündere Umgebung zu bieten.)
    Katie!
    Die Erinnerung reißt mich aus meinen nostalgischen Gedankengängen.
Katie! Wie geht es ihr ohne mich? Hat sie Hunger? Brüllt sie sich die Lunge aus dem Leib, weil sie ihren Frühstücksbrei noch nicht bekommen hat und ihr Daddy in London hockt, während ihre Mutter in der Wohnung eines Exfreundes im Jahr
2000
gefangen ist? Katie   …
    Mir steigen Tränen in die Augen, und ich spüre meinen Pulsschlag am Hals. Ich versuche ein zweites Mal, unser Kindermädchen zu erreichen, aber dann wird mir klar, dass es sinnlos ist.
    Die plötzliche Erkenntnis trifft mich brutal und erbarmungslos. Wenn ich hier bin, wenn ich im Jahr 2000 gefangen bin, dann existiert Katie nicht. Noch nicht. Vielleicht wird sie nie existieren. Sie rollt sich nicht in ihrem Bettchen herum, plagt sich nicht damit ab, ihr neunzehntesWort rauszubringen und vermisst auch nicht ihre Mutter. Sie ist nichts weiter als eine Erinnerung, ein vages, nicht fassbares, flüchtiges Andenken an das, was mir in meiner Zukunft bestimmt ist.
    Nur dass ich, während ich den Inhalt meines früheren Lebens inspiziere, überhaupt nicht weiß, in welche Richtung ich mich wenden soll.

3
    Irgendwo klingelt ein Handy, aber ich kann es nicht finden. Weder unter der hellbraunen Fleece-Decke, die notdürftig unsere schreckliche Couch bedeckt, noch in der Küche, wo ich sämtliche Ablageflächen durchforstet habe. Mit beiden Händen grabe ich jetzt in einer Tasche, die ich auf einem der Korbstühle (genau wie der Schreibtischstuhl während desselben Ausflugs zu Pier 1 erstanden) in der Essecke entdeckt habe. Ich erinnere mich an diese Handtasche! Ich liebte sie! Mein Vater hatte sie mir geschenkt, als ich nach dem ersten Jahr auf der Business School meinen Job bei DM&P antrat.
    Was zum Teufel ist aus dieser Handtasche geworden? Habe ich sie etwa entsorgt, als wir umgezogen sind?,
frage ich mich und bekomme endlich das vibrierende Telefon zu fassen, das zur Melodie von *NSYNC’s «Bye bye bye» vor sich hin bimmelt.
    «It ain’t no lie, baby, bye, bye, bye», summe ich leise, klappe das Telefon auf und halte es mir ans Ohr.
    «Hallo?» Ich warte. «Äh, hier spricht Jillian.» Ich erstarre zur Salzsäule, nur meine Augen bewegen sich, als würde ich gerade bei etwas furchtbar Verbotenem erwischt. Ich höre, wie die Luft beim Einatmen durch meine Nasenlöcher strömt.
    «Äh, Jill? Hier ist Gene. Wo steckst du?»
    Gene? Welcher Gene? Ach, das war der Praktikant von der Agentur, der ab und zu als mein Assistent fungierte.
    «Ich bin hier. Ich bin
hier
!», antworte ich mit Nachdruck.
    «Äh, alles okay mit dir? Du klingst so   … komisch.» Im Hintergrund ist Telefonklingeln zu hören.
    «Gut, gut, mir geht’s gut! Was ist los? Wo bist du, Gene? Bist du etwa   …?» Ich mache die Wohnungstür auf und spähe hinaus, falls er im Treppenhaus stehen sollte. Aber der Flur ist leer, und ich schließe die Tür schnell wieder zu.
    «Ich bin in der Agentur, Jill. Wo sonst?» Er spricht sehr langsam, als wäre ich begriffsstutzig. «Du verpasst gerade die große Brainstorming-Sitzung für den Coke-Termin, und ich habe mir Sorgen gemacht. Alle fragen, wo du bist.»
    «Oh», antworte ich. «Äh   … Ich fühle mich heute nicht
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