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Gestern fängt das Leben an

Gestern fängt das Leben an

Titel: Gestern fängt das Leben an
Autoren: Allison Winn Scotch
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    Ding. Ding. Ding. Ding. Ding. Ding. Ding. Ding. Ding.
    Irgendwo in meinem linken Gehörgang registriere ich, dass mein Wagen mich auf eine offene Autotüre hinweist. Mein Gehirn nimmt die Nachricht zwar auf, doch ignoriert es sie augenblicklich.
    Ding. Ding. Ding. Ding. Ding. Ding.
    Langsam lasse ich die Hände über das kühle Holzlenkrad gleiten, hinunter auf den butterweichen Ledersitz. Der Werbeprospekt für dieses Fahrzeug wollte uns weismachen, dass man mit dem Kauf dieses Autos das ideale Leben gleich dazubekam. Als würden wir künftig unsere Wochenenden damit verbringen, irgendwelche Berghänge hinunterzurasen, wild schäumende Flussbetten zu durchqueren oder bei Sonnenuntergang auf einer leuchtend grünen Wiese vor einem Sonnenblumenfeld zu picknicken. Gespickt war der Prospekt mit Bildern eines Pärchens, das Barbie und Ken ähnlich sieht. Meine Tochter zeigte auf die Bilder und sagte tatsächlich das Wort «Barbie». Worauf mein Mann und ich in frenetischen Jubel ausbrachen (so sehr, dass die Leute in dem Autohaus die Hälse reckten, um herauszufinden, ob wir vielleicht ein Auto gewonnen hatten). Der Wortschatz unserer Tochter umfasste bis dato nämlich nur ungefähr siebzehn Wörter.
    «Barbie» markierte somit einen weiteren Meilenstein. Bisher konnte sie die Worte: Mama. Mehr. Hund. Dada.Nein. Ja. Kuss. Milch. Ball. Hoch. Puppe. Hallo. Flasche. Becher. Ciao. Runter. Schlafen.
    Ich klemme mir die Finger unter meine klebrig verschwitzten Oberschenkel und wiederhole stumm die Liste mit Katies Wörtern. Ich kann sie im Schlaf. Natürlich kann ich sie im Schlaf. Ich gehöre nun mal zu den Müttern, die diese Dinge wissen. Ich gehöre zu den Müttern, die pflichtschuldigst jeden einzelnen Entwicklungssprung ihres Kindes notieren («Vier Monate, drei Wochen: Katie hat sich heute umgedreht! Weit vor dem Sechs-Monats-Ziel!»); die ihr Kind gemäß den ärztlichen Empfehlungen bis zum ersten Geburtstag stillen («Ich bin ja so traurig, dass ich abstillen muss», erzählte ich meinen Freundinnen mit in Falten gelegter Stirn, um meiner Aufrichtigkeit Nachdruck zu verleihen); und ich bin eine dieser Mütter, die genau Buch führen über das Vokabular ihres Kindes, um sicherzustellen, dass es sein Potenzial auch wirklich voll und ganz ausschöpft.
    Katie kann schon siebzehn Wörter! Meine Tochter ist anderen Achtzehnmonatigen einen Tick voraus. Und jetzt also auch noch «Barbie».
    Ding. Ding. Ding. Ding. Ding. Ding   … Platsch.
    Mein Blick fährt hoch vor Schreck. In die obere rechte Ecke der Windschutzscheibe hat ein Vogel geschissen. Schimmelgrün rutscht der Fleck jetzt über das Glas nach unten.
    Na klasse
, denke ich,
von Vogelscheiße war in dieser dummen Broschüre nichts zu sehen.
Ich atme tief ein und versuche, die Anspannung auszuatmen, wie ich es von meiner Pilates-Lehrerin gelernt habe. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag besuche ich den Kurs, immer von zehn bis elf Uhrvormittags, nachdem das Kindermädchen eingetroffen ist und ehe ich zum Supermarkt fahre, um für das Abendessen einzukaufen.
    Ich spüre, wie die Luft meinen Brustraum füllt und ihn dehnt wie einen Luftballon. Langsam zähle ich bis fünf und versuche, nicht zu würgen. Es ist nämlich ziemlich schwierig, sich zu entspannen, wenn einem vom Rücksitz der Duft nach saurer Milch in die Nase steigt. Katie hat sich gestern aus nicht nachvollziehbaren Gründen den Inhalt ihrer Trinktasse über den Kopf gekippt. Und da ich den Kindersitz nicht sofort reinigen konnte, stinkt mein nigelnagelneuer Range Rover statt nach einer wohligen Mischung aus Zitronenreiniger und Schuhcreme jetzt nach ranziger Milch.
    Die Vogelscheiße sickert gerade gemächlich in den Spalt zwischen Windschutzscheibe und Motorhaube, als Mrs.   Kwon mir von der Reinigung aus zuwinkt. Sie schwenkt wie wild den Arm durch die Luft und zeigt dabei dasselbe leicht beunruhigende Zahnpastalächeln wie immer.
    Ding. Ding. Ding. Ding. Ding. Ding. Ding.
    Schwerfällig hieve ich mich aus dem Wagen. Über die Schulter betrachte ich die Rückseite meiner Beine: Schweißnass glänzt die Haut und weist Abdrücke vom Autositz auf. Die perfekte Imitation fortgeschrittener Zellulitis.
    Ich knalle die Autotür zu, und endlich hört das Gebimmel auf. Plötzlich herrscht Ruhe.
    ***
    «Sie nicht sehen so gut aus», sagt Mrs.   Kwon in ihrem unvergleichlichen Akzent zu mir. Die unzähligen Bügel an derelektrischen Kleiderstange unter der Decke schlängeln sich kreuz und quer durch den
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