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Gestern fängt das Leben an

Gestern fängt das Leben an

Titel: Gestern fängt das Leben an
Autoren: Allison Winn Scotch
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Hand nehme ich diekastanienbraunen Haare zurück, die sich in einer Mähne bis unter die Schulterblätter ergießen – Haare, die zu einem praktischen Bob geschnitten und mindestens zwei Nuancen dunkler waren. Ich starre mich an. Die feinen Fältchen rund um meine Augen sind weg; der Leberfleck, den ich mir sicherheitshalber hatte wegschneiden lassen, sitzt neben dem rechten Nasenflügel; meine Ohrläppchen, die Jacks Mutter aufgrund des Piercings mal als «leicht deklassiert» bezeichnet hatte, sind unversehrt.
    Ich bin eine jüngere Ausgabe meiner Selbst. Und gleichzeitig auch nicht.
    Panisch fahre ich herum, renne wieder rüber ins Schlafzimmer und reiße die Tür zum Wandschrank auf. Er ist vollgestopft mit den Sachen aus meiner Studentenzeit, nicht den Klamotten aus meinem Leben als Mama. Auch die Garderobe aus meinem Berufsleben fehlt, die normalerweise fein säuberlich nach Farbe und Anlass sortiert in meinem Schrank hängt.
    Nach erneutem Zwischenstopp im Bad stolpere ich ins Wohnzimmer und entdecke auf dem Kaminsims ein Foto von Jack und mir, aufgenommen an meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag. In einem anderen Rahmen steckt ein Bild von Ainsley und Megan, meiner besten Freundin aus der Highschool, und mir zu Beginn des Schuljahres 1999.   Augenblicklich klingt mir die Musik von Prince in den Ohren, das Lied, das in den Tagen vor der Jahrtausendwende rauf und runter gespielt wurde.
    Plötzlich klingelt das Telefon, und ich mache einen fast meterhohen Satz. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich nackt bin.
Ich schlafe nie nackt
, denke ich. Wenigstens jetzt nicht mehr. Jetzt schlafe ich in Seidenpyjamas, die ich imSchlussverkauf bei Nordstorm ergattere. Jeden Juli fülle ich dort meinen Bedarf an Unterwäsche und Schlafanzügen auf. Ich habe aufgehört, nackt zu schlafen, als Henry und ich zusammengezogen sind, weil Henry nie nackt schläft und ich mir einfach komisch vorkam.
    Der Anrufbeantworter schaltet sich ein.
    «Hallo, ihr habt Jillian und Jack erreicht», höre ich mich sagen. «Wir können gerade nicht ans Telefon gehen, aber wir rufen so bald wie möglich zurück. Ciao!»
    Dann ein langer Pfeifton.
    «Jill, ich bin’s! Ich hab’s bei dir in der Agentur versucht, aber du warst noch nicht da. Ich rufe wegen unseren Plänen an. Meld dich mal.»
    Megan! O Gott, es ist Megan! Ich gehe zum Anrufbeantworter und starre das Gerät an. Ich spiele die Nachricht ab, und dann immer und immer wieder.
Unmöglich! Das ist ganz und gar außerhalb jeglicher Vorstellungskraft
. Megan kam vor drei Jahren spät nachts mit dem Auto von der Straße ab und prallte gegen einen Stahlträger. Sie war geschäftlich in Kalifornien unterwegs und muss auf dem Rückweg vom Abendessen am Steuer eingeschlafen sein. Zumindest ging die Polizei davon aus; es wurden keinerlei Bremsspuren gefunden, und Tyler, ihr Ehemann, bekam eine blutverschmierte Geldbörse, einen Verlobungs- und einen Ehering überreicht. Für uns Freunde blieben nur ein paar tröstende Worte. Das war’s. Es hieß, sie sei sofort tot gewesen.
    An einem nasskalten Oktobertag, kurz bevor die Bäume die Blätter verloren, stand ich bei ihrer Beerdigung auf dem Friedhof und klammerte mich an Henrys Arm.
    Ich lasse mich auf das beigefarbene Sofa fallen, dessen kratziger Stoff einen immer in den Rücken pikte. Wie ofthatte ich Jack gebeten, es rauszuwerfen, doch ohne Erfolg: «Weißt du, Süße, ich kann nicht gut mit Veränderungen umgehen, und ich liebe dieses Sofa, ich habe es schon seit dem College   …»
    Fassungslos starre ich zum Fenster hinaus. Ich bin wieder zurück, das steht fest. Ob dies also so etwas wie eine zweite Chance bedeutet? O Gott, ich kann es nicht fassen! Wie oft habe ich mich gefragt:
Was wäre, wenn   … Wenn ich mein früheres Leben weitergeführt hätte? Wenn ich mit Jack zusammengeblieben wäre? Wenn ich einfach alles anders gemacht hätte, als ich noch die Chance dazu hatte? Was wäre, wenn   …?
    Doch wie es aussieht, muss die aktuelle Frage wohl besser lauten: Was jetzt?
    ***
    Die Zeitung auf dem Tisch im Flur ist auf Donnerstag, den 13.   Juli 2000 datiert. Die Schlagzeilen verkünden das Rennen ums Weiße Haus: Reichen George Bushs Leistungen in Texas, um Wählerstimmen zu gewinnen? Gelingt Al Gore die Auswahl des richtigen Vizepräsidenten, um seiner Kandidatur Vorschub zu leisten? Der Kulturteil singt ein Loblied auf einen kleinen Film mit dem Titel
X-Men
, der am nächsten Tag in die Kinos kommt und von dem ich weiß, dass er
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