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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Autoren: Marcel Proust
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II

    Combray, von ferne gesehen, aus einem Umkreis von zehn Meilen, von der Eisenbahn aus, wenn wir in der letzten Woche vor Ostern dort ankamen, war nur eine Kirche, die die Stadt zusammenfaßte, die sie vertrat, die zu der Ferne von ihr und für sie sprach und die, wenn man näherkam, um ihren hohen, düsteren Kragenmantel herum mitten im Feld gegen den Wind wie eine Hirtin ihre Schafe die wolligen, grauen Rücken der zusammengescharten Häuser dicht beieinanderhielt, die ein Rest der Stadtmauer aus dem Mittelalter hier und da mit einer ebenso vollkommen kreisrunden Linie umgab wie auf einem spätgotischen Bild. Zum Bewohnen war Combray etwas trübselig, wie auch seine Straßen mit den aus dem schwärzlichen Stein der Gegend gebauten Häusern, zu deren Eingang äußere Stufen führten und deren Giebel vor ihnen so viel Schatten verbreiteten, daß man, sobald der Tag sich neigte, gezwungen war, in den zur Straße gehenden Räumen die Stores hochzuziehen; es waren Straßen mit ernsten Heiligennamen (von denen manch einer mit der Geschichte der ersten Herren von Combray zusammenhing): Rue Saint-Hilaire, Rue Saint-Jacques, in der sich das Haus meiner Tante befand, Rue Sainte-Hildegarde, auf die das Gartentor ging, Rue du Saint-Esprit, auf die sich die kleine Seitenpforte ihres Gartens öffnete; und diese Straßen von Combray fristen ihr Dasein in einem so entlegenen Teil meines Gedächtnisses, der mit so anderen Farben getönt ist, als sie heute die Welt für mich trägt, daß sie mir in Wahrheit alle samt der Kirche, die den Platz beherrschte, noch unwirklicher erscheinen als die Projektionen der Laterna magica; und es kommt mir in manchen Augenblicken so vor, als ob die Möglichkeit, noch einmal die Rue Saint-Hilaire zu überschreiten oder ein Zimmer in der Rue del’Oiseau zu mieten – in der alten Herberge zum »Oiseau Flesché«, aus deren Kellerfenstern ein Küchengeruch aufstieg, der noch manchmal genauso intermittierend und genauso warm in meiner Erinnerung wiederkehrt – eine weit wunderbarere Kontaktnahme mit einer anderen Welt bedeuten würde als etwa die persönliche Bekanntschaft mit Golo oder eine Unterhaltung mit Genoveva von Brabant.
    Die Kusine meines Großvaters – meine Großtante –, bei der wir wohnten, war die Mutter jener Tante Léonie 1 , die seit dem Tod ihres Gatten, meines Onkels Octave, zunächst Combray, dann ihr Haus in Combray, dann ihr Zimmer, dann ihr Bett nicht mehr verlassen wollte; sie begab sich nicht mehr »nach unten«, sondern lag einfach in einem zwischen Kummer, physischer Hinfälligkeit, Krankheit, Wahnvorstellungen und Frömmigkeit schwankenden Zustand da. Ihre Privaträume gingen auf die Rue Saint-Jacques, die viel weiter draußen beim »Grand-Pré« (im Gegensatz zum »Petit-Pré«, einer Wiese, die mitten in der Stadt zwischen drei Straßen grünte) endete und die, grau und vollkommen einförmig mit drei hohen Sandsteinstufen vor fast jeder Tür, aussah wie eine Steinschlucht, als ob dort ein gotischer Bildhauer eine Krippe oder eine Kreuzigungsgruppe direkt aus dem Fels herausgemeißelt hätte. Meine Tante bewohnte strenggenommen nur noch zwei zusammenhängende Zimmer: am Nachmittag blieb sie in dem einen, während das andere gelüftet wurde. Es waren solche typisch ländliche Stuben, die – so wie in gewissen Ländern Myriaden von Protozoen, die wir nicht wahrnehmen, ganze Teile der Luft oder des Meeres mit ihrem Schimmer oder ihrem Duft erfüllen 2 – uns mit ihren tausend Düften bezaubern, die dort Tugenden, Weisheit, Gewohnheiten, kurz ein ganzes innerliches Leben verbreiten, ein Leben, das geheim,unsichtbar und überreich dort in der Atmosphäre schwebt; natürliche Düfte noch, gewiß, von Zeit und Wetter gefärbt wie jene der nahen Felder und Wälder, doch schon häuslich geworden, menschlich und eingeschlossen, ein umsichtiges und durchscheinendes köstliches Gelee aus allen Früchten des Jahres, die vom Obstgarten in den Schrank gewechselt haben; gezeichnet noch vom Wechsel der Jahreszeiten und doch dem Hausrat und Haushalt eingeordnet, den eisigen Stich des Rauhreifs durch die Süße warmen Brotes mildernd, müßig und pünktlich, umherschlendernd und wohlversorgt, sorglos und vorbedacht, erinnernd an Wäsche, Frühaufstehen, Frömmigkeit, erfüllt von einer zufriedenen Ruhe, die einen nur um so beklommener werden läßt, und von einer prosaischen Alltäglichkeit, die für denjenigen, der sie für kurze Zeit betritt, ohne darin gelebt zu haben, einen
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