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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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wieder verlassen würde. Wie er war auch sie über die Demenzforschung zur Gesichtsblindheit gelangt, doch die immer gleiche spitzfindige Frage – warum können manche Menschen keine Gesichter wiedererkennen? – und die bescheidenen Behandlungsmöglichkeiten der Betroffenen hatten schon begonnen, sie zu langweilen. Ihr Forschungshunger würde sie vermutlich erst zu einem der spektakulären bildgebenden Verfahren treiben, um sie darauf, diesen Dreischritt hatte Gabor bei der nachwachsenden Generation mehrfach beobachtet, zu den Geheimnissen der tiefen Hirnstimulation zu führen.
    »Männlich oder weiblich?«, fragte er.
    »Männlich. Sechsundfünfzig. Wurde nach einem Verkehrsunfall mit leichtem Schädelhirntrauma zur Beobachtung aufgenommen und klagte über Photopsien. Nur ein leichtes Flimmern, das innerhalb weniger Stunden nachließ. Ich habe den Prominententest durchgeführt. « Sie versuchte ernst zu bleiben, aber ihr Mundwinkel zuckte, als sie sagte: »Zwanzig Prozent. Hat nicht einmal Michael Jackson erkannt. Station zwei. Karsten Sieverth.«
    Feierliche Stille. Sie wussten beide, was das bedeutete. Zwanzig Prozent. Dann hatte er vielleicht Elvis identifiziert und das henkelohrige Affengesicht von Bush Junior und ein, zwei andere, aber der Rest: optisches Rauschen.
    »Karsten Sieverth«, wiederholte er, um sich den Namen einzuprägen. Falls Karsten Sieverths Gesichtsblindheit tatsächlich angeboren war und sich nicht doch als Begleiterscheinung des Traumas herausstellte, könnten sie ihr Blicktraining noch einmal testen und hätten das halbe Dutzend Probanden zusammen, um ihre Studie vorläufig abzuschließen. Ist Gesichtsblindheit heilbar? Nein! Lassen sich Beschwerden lindern? Selbstverständlich! Durch Unterstützung der Kompensationsleistungen – Identifizierung durch Stimme, Gang oder Gesten – und durch eine Veränderung des Blickverhaltens. Prosopagnostiker meiden die inneren Gesichtsbereiche und seine Gruppe analysierte Blickpfade und trainierte Betroffene, die Augen wieder aufs Zentrum zu richten, mitten hinein in das wimmelnde Chaos, das sie so verwirrte. Und siehe da!
    »Sehr gut. Worauf warten Sie?«
    Er wandte sich dem Telefon zu, aber sie rührte sich nicht, sondern reckte den Kopf, als wollte sie sehen, was auf seinem Schreibtisch lag. Die Linie ihres Ponys schloss akkurat mit dem Rand der Brille ab, deren Gläser große Teile ihrer Wangen bedeckten, sodass die Hälfte ihres Gesichts wie hinter einem Schild lag.
    »Wir alle drücken Ihnen die Daumen«, sagte sie. »Nicht nur wegen Ihrer fachlichen Kompetenz, sondern auch wegen Ihrer Art zu unterrichten.« Ihr Mund klappte auf, wobei ihre Lider für einen Moment flatterten. Beflissen lobte sie seine didaktischen Vorzüge und verstummte erst, als sie seine hochgezogene Augenbraue bemerkte. Er machte eine Geste zum Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs. Sie setzte sich und heftete ihren Blick auf eine Schale mit Büroklammern.
    »Ich«, sagte sie nach einer Weile. »Ich möchte bei der nächsten Auswertung schreiben.«
    »Sie schreiben doch.«
    »Als verantwortliche Autorin.«
    Gabor spürte die angespannten Bauchmuskeln unter den gefalteten Händen in seinem Schoß. Er wartete auf eine Erklärung, aber es folgte keine.
    »Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«
    Das Glas ihrer Brille schrumpfte ihre braunen Augen zu willensstarken Knöpfen. Ihr Oberkörper war gerade, aber die Schulter schob sich vor, als drückte sie gegen einen unsichtbaren Widerstand.
    »Weil ich gut schreibe.«
    »Das tun die anderen auch.«
    Sie blickte auf. Keine Unsicherheit, keine Zeichen von Zweifel, nur Entschlossenheit und der beneidenswerte Glaube, im Recht zu sein.
    »Außerdem würden wir Zeit sparen.«
    »Entschuldigung. Aber worüber sprechen wir?«
    Sie blickte zur Seite, zu einer alten Apothekerwaage, die er auf einem Flohmarkt in Freiburg erstanden hatte.
    »Ich weiß: Das ist nicht ideal. Aber ich bin nicht die Einzige, die so denkt. Drei Mal. Wir mussten den letzten Bericht drei Mal überarbeiten. Das ist reine Energieverschwendung.«
    Wenn Gabor sie richtig verstand, sprach sie über einen Nebenbericht, der das Fehlen eines Hirnareals mit dem Auftreten einer Erscheinungsform der Prosopagnosie in Verbindung bringt. Die Korrelationen, die ihre Tests ergaben, waren so dürftig ausgefallen, dass sich daraus nur Vermutungen und der übliche Verweis auf nötige Folgeuntersuchungen ergaben. Gabor hatte Yann gebeten, die Ergebnisse in Form zu bringen, damit
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