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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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die Forschungssackgasse wenigstens unter der Rubrik »Dokumentation unserer Arbeitsgruppen« in der hauseigenen Postille erschien und so zumindest die Publikationsliste des Teams aufhübschte.
    »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber was immer es ist: Versuchen Sie es anders.«
    »Ich habe gar nichts vor. Ich möchte nur meine Arbeit tun, und zwar so gut und effizient wie möglich. Ich denke, das entspricht den Zielen und Werten dieses Hauses.«
    »Seit wann gehört das Anschwärzen von Kollegen zu diesen Gepflogenheiten? Falscher Ansatz, wie gesagt.« Er nahm das Telefon wieder auf, wandte sich zum Fenster. Am Rand seines Gesichtsfeldes sah er sie verschwommen wie ein Gespenst den Arm heben und auf seinen Bildschirm zeigen.
    »Sie können selbst vergleichen. Ich habe Ihnen eine zweite Version geschickt. Damit Sie sehen, wie ich an die Sache rangegangen wäre.«
    Er drückte die Taste zur Wahlwiederholung, und als er sich umdrehte, war sie gegangen.
    Timothys Stimme hob augenblicklich seine Laune. Die Sehnsucht nach der Insel warf ihn einen Lidschlag später auf die Geröllpiste vor ihrem Grundstück. Das Schneiden der Luft in den Nasenlöchern, das Lehmrot der harten Erde, die Sträucher mit den zitternden Silberästen – er badete in gleißender Erinnerung.
    »Gabor«, sagte er. »Aus Berlin.«
    »Oh«, machte Timothy verdutzt, als hätte er seinen Anruf schon vergessen. »Ach ja. Gabor. Wie geht’s? Gut angekommen?«
    »Klar. Und selbst?«
    »Sicher«, sagte er nur. Und dann: »Wollte sagen, dass Christos die Mauer ausgebessert hat. Alles in Ordnung. Keine Ziegen mehr. Keine Ziegen auf privatem Grund.«
    »Oh. Schön. Gute Nachrichten.« Wie immer, wenn er mit Timothy sprach, gab Gabor seiner Stimme ungewollt eine näselnd distanzierte Note. »Und sonst? Wie geht’s der Grube? Fortschritte in Sicht?«
    »Wir lernen, uns zu gedulden.« Timothy lachte bitter. »Wir wollten ein Abenteuer? Jetzt haben wir ein Abenteuer!« Er lachte wieder, dieses Mal über seinen Spruch, und Gabor tat ihm den Gefallen und lachte mit. Plötzlich stockte Timothy: »Sag mal: Bist du in der Klinik?«
    »Ja.«
    Gabor hörte ein seltsames Pfeifen, vor Freude oder Überraschung, und Timothy flüsterte, als wenn Maureen in der Nähe wäre.
    »Wir haben diese Sprachregelung, weißt du. Sie lautet: Uns geht’s gut, wir vermissen nichts. Schon gar nicht unsere Arbeit an einem Londoner Krankenhaus. Falls wir unsere Arbeit aber doch vermissen sollten, gehen wir ins Gesundheitszentrum und bieten der Inselgemeinschaft unseren ehrenamtlichen Dienst an. Verstehst du? Aber es stimmt nicht. Ich vermisse es. Ich denke jeden Tag ans Krankenhaus. An die Müdigkeit nach einer Nachtschicht. Mein Gott, an die Gänge mit den Kinderzeichnungen. Und diese Gerüche!« Er schnaufte. »Was liegt bei dir in der Luft?«
    »Was? Keine Ahnung.« Gabor tat trotzdem, als würde er schnüffeln, doch Timothy hatte das Interesse schon wieder verloren. »Wir sollten hier verschwinden«, sagte er. »Traum verwirklicht, Illusion verbrannt. Soll ich dir sagen, was hier in der Luft liegt? Das Fallen der Grundstückspreise.«
    Jetzt lachte Gabor.
    »Das wäre mir neu.«
    »Was glaubst du denn? Seit der Leiche gibt es nur noch ein Thema.«
    »Was für eine Leiche?«
    »Habt ihr das nicht mehr mitbekommen? Eine Leiche lag am Strand, in der Nähe der Südspitze. Wahrscheinlich ein Flüchtling, der von der türkischen Seite kam. Und jetzt haben alle Angst vor Zuständen wie auf Lesbos. Überfüllte Lager und herumlungernde Waisen, die, falls sie nicht Touristen beklauen, den Immobilienmarkt ruinieren. Keiner wird mehr Häuser kaufen wollen.«
    Gabor konnte sich die hysterische Kettenreaktion, die eine angespülte Leiche in den schnell entflammbaren Dorfgemeinschaften auslöste, lebhaft vorstellen. Jeder Anlass zur Bildung von Untergangsszenarien war hoch willkommen. Chásame , wir haben verloren, hatte es vor einigen Jahren geheißen, als eine der Reedereien die Insel von ihrer Route nahm. Eine goldene Saison später wollte sich kaum jemand an die Jammerei erinnern – die Konkurrenzgesellschaft schickte inzwischen Highspeedfähren, und weil ein russisches Hochglanzmagazin einen Jubelartikel über ihr lange übersehenes Eiland gebracht hatte, ankerten im Sommer riesige Jachten vor den Buchten und aus den lieblosen Souvenirläden waren schicke Juweliere geworden. »Gottes Wege sind unergründlich«, sagten jetzt zufrieden die, die im letzten Jahr noch den Teufel an die Wand
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