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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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beim Bezahlen des Obstes mit dem Portemonnaie aus dem Sakko gezogen und danach zu den Früchten in die Tüte gesteckt hatte. Er hatte die Karten, auf denen groß und deutlich ihre Adresse stand, dem Mann in den Laster hinterher geworfen.
    »Warum guckst du so?«, fragte Berit. »Du denkst wieder an deinen Vortrag, oder? Mach dir keine Sorgen.«
    In ihrer Stimme war ein nicht zu überhörender Unterton. Sie ging davon aus, dass er die Stelle ohnehin bekäme, und hielt seine Zweifel für Eitelkeit.
    Als Arzt war Gabor daran gewöhnt, Dinge genau zu betrachten, sein Möglichstes zu tun, und wenn das nicht ausreichend war, die Schicksale seiner Patienten schnell hinter sich zu lassen, sonst hätten sie ihn inzwischen um den Verstand gebracht. Er bedauerte den Verlust der Karten, aber sie beschäftigten ihn nicht weiter. Nachts in der Enge der Kabine – Berits Hand ruhte auf seiner Brust und er hörte den Atem seiner schlafenden Kinder – hatte er eine Weile wach gelegen und an den Mann in seinem Versteck gedacht, und auch während des Frühstücks blieb das Wissen um ihn als unangenehmes Kratzen am Rand seines Bewusstseins präsent, doch spätestens, als er mit Malte im Pool auf dem Sonnendeck herumtollte, schüttelte er die letzten Reste dieses Unbehagens von sich. Dennoch war Gabor froh, als am nächsten Nachmittag die Küste Apuliens mit ihren unansehnlichen Hochhaussiedlungen sichtbar wurde und er die Fähre und das, was sich auf ihr abgespielt hatte, bald würde vergessen können.

2
    Der Blick ging von der Kirche am Stern über den Gasometer bis zu den Hochhäusern an ihrer Autobahnabfahrt, aber trotz der spektakulären Aussicht war der Raum meist leer. Die Schalensitze aus Plastik erinnerten an den Wartesaal eines Einwohnermeldeamts, der Fernseher war winzig und aus irgendeinem Grund roch es unangenehm nach Bohnerwachs. Wenn sich doch einmal ein Patient hierher verirrte und im Bademantel vor dem Morgenprogramm hockte oder ein Buch las, weil er das Gejammer seines Zimmernachbarn nicht ertrug, verließ er kurz nach ihrem Erscheinen den Raum. Zwei Ärzte auf Patiententerritorium wirkten offenbar bedrohlich.
    Auch jetzt war niemand da, und Gabor drehte dem gut gelaunten Moderator die Stimme ab, bevor er im Stehen ungeduldig durch eine Autozeitschrift blätterte, während Kaffee aus dem Automaten in einen Becher lief. Es war wie immer, und es ärgerte ihn: Selbst wenn Gabor zu spät kam – Yann erschien noch später. Als Gabor gerade gehen wollte, stand der alte Freund, die Arme ausgebreitet, in der Tür.
    »Man kann es sehen: Du warst auf einer Insel!«
    »Wie du aussiehst, brauch ich dir nicht zu sagen.«
    Sie umarmten sich, kurz und fest.
    Yann wippte zufrieden auf den Fußballen. Er war schon seit zwei Wochen wieder zurück, aber sein langes helles Haar war noch strohig von der andalusischen Sonne und seine Gesichtshaut von einer tiefen Bräune, die nur Seglern oder Surfern oder, wie in Yanns Fall, Kiteboardern vorbehalten war, also den Verrückten, die von morgens bis abends über aufgewühltes Wasser bretterten.
    »Kaffee?«
    Yann schüttelte den Kopf, und sie stellten sich ans Fenster. Die Glaskuppel des Reichstages gleißte im Morgenlicht, trotz der frühen Stunde wand sich schon der Ameisenzug der Besucher die Spirale hinauf. Aus dem Tiergarten schob sich der lang gezogene Quader des Kanzleramtes, weiter hinten ragten Dachbögen einer Konzerthalle aus den Bäumen. Aus einer Art Besitzerstolz heraus hatte Gabor bei der Stationsbesichtigung vor drei Jahren Yann diesen Raum als Letztes gezeigt, und seitdem eröffneten sie ihre Zusammenkünfte immer gleich: mit andächtigem Schweigen. Gabor hob den Becher an die Lippen, sog vorsichtig die bittere Flüssigkeit in den Mund. Die Freude darüber, wieder hier zu stehen, war größer als erwartet.
    Sie hatten in Freiburg zusammen studiert und sich danach über zehn Jahre aus den Augen verloren. Während Gabor in Köln und Zürich die Stufen bis zur Facharztprüfung erklomm, war Yann in Freiburg geblieben, um nach einem Erfolg versprechenden Anfang in der Phantomschmerzforschung plötzlich zu kündigen und erst auf Lanzarote, später in einem Krankenhaus auf Fuerteventura und schließlich in einer Klinik in Mexico City das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Schon während des Studiums hatte Gabor über die Leichtigkeit gestaunt, mit der Yann der Stoff zuflog, und sich über die Gleichgültigkeit gewundert, die er seiner Begabung entgegenbrachte. An einem
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