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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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fielen Gabor die dichten Brauen auf, sichelförmig geschwungen, die fordernde Ungeduld in seinem Blick. Gabor lehnte die Schulter gegen den Laster, um seinen Fuß zu entlasten, und als wäre dies eine Aufforderung, lief der andere an der Seitenwand entlang, einen Rucksack über der Schulter, den Gabor vorher übersehen hatte, wandte sich noch einmal um, bevor er hinter den Wagen huschte. Mit zwei Schritten war Gabor bei der Tüte mit den Bananen, hob sie auf, ohne auf das Stechen im Knöchel zu achten. Er humpelte dem Mann hinterher bis zur Rückseite, wo die Klappe offen stand. Kälte strömte ihm entgegen, als er die Tür weiter öffnete. Er spürte den Blick aus dem Innenraum, schleuderte die Tüte hinein und schloss den schweren Türflügel.
    Wenig später saß er auf dem Klodeckel einer Herrentoilette und betastete die aufgeschürfte Haut an seinem Spann und die Schwellung oberhalb seines Knöchels. Er spürte bei jedem Schritt noch ein leichtes Ziehen, humpelte aber nicht mehr. Beruhigt zog er Socke und Schuh wieder an, klopfte den Staub von den Kleidern und verließ die Kabine. Im Vorraum inspizierte er im Spiegel seine Wange, aber die Rötung war so schwach, dass sie bei der Bräunung seines Gesichts kaum auffallen dürfte. Seine Augen waren geweitet, als hätte er eine Prüfung bestanden.
    »Da ist er ja!«, sagte Berit, als Gabor sich zu ihnen setzte. Sie hatten schon gegessen und spielten an einem Fenstertisch Uno.
    Sein Sohn sagte stolz: »Ich gewinne!«
    »Ich habe sie ins Bett gebracht. Sie war müde.« Er warf Berit einen schnellen Blick zu und hoffte, dass sie nicht nach der Banane für Malte fragte, aber sie nickte nur, während sie die Karten verteilte, und als sie lächelnd aufschaute, flutete Wärme seinen Bauch. Ihr Haar war mit einer Spange im Nacken zusammengefasst und die Sommersprossen auf ihrer Stirn hatten sich unter der Sonne zu einem Fleck mit dem gezackten Umriss eines unbekannten Landes zusammengeschlossen. Die ausgeprägten Wangenknochen, ihre gerade Nase und der vorspringende Mund, nach sechzehn Jahren staunte er noch immer über die Klarheit ihrer Konturen. Ihr Gesicht schien den Raum zu teilen, vorwärtszustreben, geradewegs auf ihn zu.
    »Hast du Hunger?«
    Er schüttelte den Kopf. Sie spielten drei Partien und ließen ihren Sohn die letzten beiden gewinnen. Danach kletterte Malte auf Berits Schoß und zog ein Buch mit Vogelzeichnungen aus der Tasche. Übermütig tippte er auf die Bilder und krähte: »Blaumeise. Rabenkrähe. Purpurreiher. Zebrafink.«
    Gabor bewegte unter dem Tisch seinen Fuß hin und her. Selbst das Pochen hatte inzwischen nachgelassen, stellte er erleichtert fest, und während Berit mit Malte das Buch durchsah, fielen ihm die Karten ein. Wie im letzten Jahr hatte er auch diesen Sommer fünf oder sechs Postkarten an Berit geschrieben, hingeworfene Aufzeichnungen von dem, was er hörte oder roch, Dialogfetzen vom Nachbartisch, Einkaufslisten, Aufzählungen unscheinbarer Dinge, die ihm ins Auge fielen, kurze Momentaufnahmen, die er in den nächsten Wochen in unregelmäßigen Abständen in den Briefkasten werfen würde, um sie als romantische Kassiber in den wieder einsetzenden Alltag zu schmuggeln und die Leichtigkeit des Sommers bis in den Herbst zu erhalten. Nach dem Urlaub im vergangenen Jahr hatte er die erste schon von einer italienischen Raststätte abgeschickt und die restlichen in Berlin immer dann eingeworfen, wenn die Ferienstimmung drohte in Vergessenheit zu geraten. Als die erste Karte eintraf, hatte Berit einige Sekunden verständnislos auf den kryptischen Text gesehen, bis sie das G. am Ende schließlich mit ihm in Verbindung brachte. Ihre Überraschung, ihre erst gerührte, dann impulsive Reaktion hatten ihn selbst verwundert. Bis in den klammen Oktober hinein hatten die Karten an der Lampe ihres Nachttischs gelehnt, und jedes Mal, wenn er beim Betreten des Schlafzimmers einen Strandausschnitt oder den wolkenumkränzten Kegel des Profitis Ilias sah, war alles wieder da, auf den zwanzig Quadratmetern eines Reihenhauszimmers mit Blick auf Ahornhecke und Berliner Mischwald: der erhabene Wind, die Hitze, die schwadenweise aufsteigenden Düfte nach Lorbeer, Thymian und Melisse.
    Unwillkürlich rutschte seine Hand unter das Revers seines Jacketts, in dessen Futter der Umschlag mit den Karten steckte, doch als seine Finger den Stoff der Tasche ertasteten, war sie leer. Er klopfte auch die anderen Taschen ab. Nichts. Bis ihm einfiel, dass er den Umschlag
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