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Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)

Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)

Titel: Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
Autoren: Keigo Higashino
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Kapitel 1
     
    Wie jeden Morgen verließ Ishigami um 7 Uhr 35 das Haus. Es war bereits März, aber es wehte noch ein kalter Wind, und so zog er sich den Schal über das Kinn. Bevor er auf die Straße trat, warf er einen Blick auf die Fahrräder in dem Ständer vor dem Haus, aber das grüne war nicht dabei.
    Ging man etwa 20 Meter nach Süden, gelangte man an die breite Shin-Ohashi-Straße. Links von dort, das heißt in östlicher Richtung, lag der Bezirk Edogawa. Wandte man sich nach Westen, kam man in Nihonbashi heraus. Kurz vor Nihonbashi traf die Straße auf den Fluss Sumida und überquerte ihn auf der Shin-Ohashi-Brücke.
    Um auf dem kürzesten Weg zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen, musste Ishigami nach Süden gehen, wo er nach wenigen hundert Metern auf den Seicho-Garten stieß. Die private Oberschule, an der er Mathematik unterrichtete, lag direkt an diesem Park.
    Ishigami ging bis zur Ampel und bog dann rechts in Richtung Shin-Ohashi-Brücke ein. Der Wind blies ihm entgegen und zerrte an seinem Mantel. Er vergrub die Hände in den Taschen und schritt etwas nach vorn gebeugt aus. Die dichten Wolken am Himmel spiegelten sich im Fluss und ließen ihn noch trüber erscheinen. Als Ishigami die Brücke überquerte, sah er unter sich ein Boot, das sich langsam flussaufwärts bewegte. Auf der anderen Seite führte eine schmale Treppe zum Ufer hinunter. Unten angekommen ging Ishigami unter der Brücke hindurch und den Weg am Sumida entlang.
    Man hatte zu beiden Seiten des Flusses Fußwege angelegt. An der ein Stück flussabwärts gelegenen Kiyosu-Brücke waren häufig Familien und Pärchen anzutreffen, aber bis zur Shin-Ohashi-Brücke verirrten sich kaum Spaziergänger. Der Grund war offensichtlich: eine lange Reihe mit blauen Plastikbahnen abgedeckter Pappkartons, in denen Obdachlose lebten. Wahrscheinlich war der Platz besonders gut geeignet, weil die Stadtautobahn direkt darüber Schutz vor Wind und Regen bot. Der Umstand, dass sich am gegenüberliegenden Ufer nicht eine einzige dieser Behausungen befand, stützte diese Annahme. Es sei denn, die Bewohner hätten sich aus einer Art Gruppenzwang nur auf einer Seite niedergelassen.
    Gleichgültig setzte Ishigami seinen Weg entlang der Behausungen fort. Die meisten waren nicht einmal so hoch, dass ein Mensch darin stehen konnte, einige reichten ihm nur bis zur Hüfte. Aber als einfacher Schlafplatz genügten sie wohl. Wäschehänger aus Plastik zeugten von häuslichem Leben.
    Ein Mann stand an dem Geländer zum Fluss und putzte sich die Zähne. Ishigami hatte ihn schon öfter gesehen. Er war vermutlich über 60 und hatte sein graumeliertes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er erweckte nicht den Eindruck, als hätte er noch die Absicht zu arbeiten. Andernfalls wäre er auch um diese Zeit nicht mehr hier gewesen. Die Tagelöhnerjobs wurden in den frühen Morgenstunden vergeben. Zum Arbeitsamt ging er sicher auch nicht. Mit dieser Frisur wäre er ohnehin nicht vermittelbar. Außerdem war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in dem Alter noch genommen wurde, gleich null.
    Ein weiterer Mann war neben seinem Unterschlupf damit beschäftigt, leere Getränkedosen zu zertreten. Ishigami hatte ihn immer wieder bei dieser Tätigkeit beobachtet und ihmdeshalb den Spitznamen »Dosenmann« gegeben. Der Dosenmann musste um die 50 sein. Er war anständig gekleidet und besaß ein Fahrrad. Wahrscheinlich hielt er sich mit Dosensammeln fit. Dass er am äußersten Rand der Siedlung und etwas nach hinten versetzt wohnte, wies darauf hin, dass er eine besondere Stellung unter den Obdachlosen einnahm. Ishigami vermutete, dass der Dosenmann eine Art Nestor der Gruppe war. Kurz nach der Reihe der blauen Plastikplanen kam eine Bank, auf der ein Mann saß. Sein schmieriger, grauer Mantel musste einmal beige gewesen sein. Darunter trug er ein Jackett und ein Oberhemd. Die Krawatte, so vermutete Ishigami, hatte er in die Manteltasche gesteckt. Er nannte diesen Mann bei sich den Ingenieur, da er unlängst beobachtet hatte, wie er in einem Magazin über Industrietechnik las. Der Ingenieur trug sein Haar kurz, und offenbar rasierte er sich auch. Demnach hatte er die Hoffnung auf eine Anstellung noch nicht aufgegeben. Sicher würde er auch heute seinen erfolglosen Gang zum Arbeitsamt antreten. Ishigami hatte den Ingenieur vor etwa zehn Tagen das erste Mal gesehen. Er hatte sich noch nicht an seine neue Lage gewöhnt und zog deshalb eine unsichtbare Grenze zwischen dem Leben unter den blauen
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