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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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eingerichtet.«
    Berit schwieg.
    »Dieser Junge?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Sie haben wohl miteinander geschlafen, doch der Junge hat ihr nichts getan. Aber Nele hat irgendwann bemerkt, dass sie nicht alleine waren. Erst hat sie die Erhebung in der Nähe für einen Fels oder einen Hügel aus Tang gehalten, aber plötzlich ist ihr klar geworden, dass da jemand lag. Georgios hat gesagt, da sei niemand, aber Nele glaubte, ein Stöhnen gehört zu haben. Georgios war betrunken, er hat dem Liegenden irgendwas zugerufen und dann hat er kleine Steinchen nach ihm geworfen. Nele wollte, dass er aufhörte, aber er hat nur gelacht, und da ist sie aufgestanden und hat eine der Fackeln genommen und ist rübergegangen. Es war ein Mann. Er lag im Sand und hatte ein Knie angezogen, als würde er schlafen. Er hat sich nicht bewegt. Sie hat sich hinuntergebeugt, und als sie im Schein der Fackel sein starres Gesicht mit den aufgerissenen Augen und den blauen Lippen gesehen hat, ist sie schreiend weggerannt.« Berit saß im Sessel, die Hände auf den Lehnen, ein Bein übers andere geschlagen, als spräche sie von etwas Harmlosem. »Sie hat gesagt, sie hätte das Gesicht erst nur gesehen, wenn sie an Georgios gedacht hat. Und dann immer, sobald sie die Augen schloss. Die wächserne Haut und die leblosen Augen. ›Immer, ich konnte an nichts anderes mehr denken‹, hat sie gesagt.«
    Leise drang das Flüstern der beiden Frauen von der Rezeption an Gabors Ohr. Er hätte erleichtert sein müssen. Nele hatte einen Toten gesehen. Nele hatte mit einem Jungen geschlafen, während ein toter Flüchtling neben ihr im Sand lag. Das hatte nichts mit dem zu tun, was sie befürchtet, was ihre Fantasie sich in den schrecklichsten Farben ausgemalt hatte. Doch er war nicht erleichtert. Er dachte an ihr Gespräch auf der Fähre: Nele hatte immer wieder die Lider zusammengepresst, als wollte sie ein Bild verscheuchen. Oder die Autofahrt zu den Kranichen, als Nele ihm von dem Gesicht erzählt hatte, das sie nicht vergessen könne. Selbst seine Angst, der Mann von der Fähre hätte sie entführt, und die fixe Idee, Neles Verschwinden habe etwas mit den Flüchtlingen auf der Insel zu tun – alles zeigte sich jetzt in einem verständlichen, bitteren Licht.
    »Warum hat sie uns nichts erzählt?«
    »Weil sie sich schuldig gefühlt hat. Weil sie geglaubt hat, er habe noch gelebt, als sie ankamen, und sei gestorben, während sie dort im Sand lagen. Weil sie geglaubt hat, sie hätte ihn retten können.«
    Gabor musste an Neles Frage denken: ob er schon einmal den Tod eines Patienten verschuldet habe und wie er damit umgegangen sei.
    »Sie wollte es mir sagen«, sagte er.
    Berit schwieg eine Weile.
    »Sie hat sogar gedacht, du wüsstest es schon.«
    »Was?«
    »Sie hat auf deinem Computer im Internet nach einer Meldung von einem Toten auf der Insel gesucht und nichts gefunden. Stattdessen hat sie gesehen, dass du Dutzende Seiten aufgerufen hast, in denen es um das Schicksal von Flüchtlingen ging. Sie hat gedacht, du wüsstest etwas.«
    Je klarer die Zusammenhänge hervortraten, desto unheilvoller erschienen sie ihm.
    »Ich habe ihr den Rat gegeben, zu schweigen«, sagte er. »Ich habe ihr gesagt, dass bestimmte Dinge schneller vorbeigehen, wenn man nicht über sie spricht.«
    Berit schien auch das schon zu wissen, aber ihr Blick war ohne Vorwurf. Er sah die scharfe Linie, die von ihrer Stirn über ihr Jochbein bis zum Kinn lief, wie immer, wenn sie angespannt war. Gabor dachte an ihre Furcht, von der Yann gesprochen hatte, an ihre Angst, er habe sie nur geheiratet, weil sie in das Bild passte, das er sich von seiner Zukunft gemacht hatte.
    »Nele kommt morgen Nachmittag«, sagte Berit jetzt und wartete, als läge alles Weitere in seiner Hand.
    Bis eben hatte sie die Sorge um ihre Tochter verbunden, doch mit der Stille trat wieder eine beängstigende Fremdheit zwischen sie.
    Die Kollegin von der kognitiven Psychologie, die Assistentin von der Neurologie im Wedding, die fleißige, aber weniger begabte Studentin, die immer im Schatten von Lavinia geblieben war. Und Lavinia Seidler selbst an der Stirnseite der Tafel. Frisch geschnittener Pagenkopf, schwarz umrandete Brille, die akkurat an ihren Pony anschloss. Die Vorstellung hatte noch nicht begonnen, aber über die Projektionsfläche an der Wand lief schon die erste Testreihe in Endlosschleife: Dutzende Gesichter, unauffällige Männer mittleren Alters. In Paaren oder Viererkombinationen blieben sie für
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