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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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Diskretion, in Wirklichkeit gefiel sie ihm. Sie war Teil einer rätselhaften Veränderung, die mit ihr vorging, seit sie im Dienste eines Erbenermittlers nach verschollenen Verwandten suchte, um ihnen die frohe Nachricht einer Erbschaft zu überbringen. Die latente Unzufriedenheit, der jammernde Unterton in ihrer Stimme waren schlagartig verschwunden. Berit besaß das, was sie selbst die »Gabe der Schnellrauskriegerei« nannte. Ihr Orientierungs- und Abkürzungssinn war untrüglich. Sie spürte auf, fand schöne Orte, wusste, wie und wo man suchen musste, hatte aus ihrem Instinkt bisher aber kaum berufliches Kapital schlagen können. Nachdem sie ihre Doktorarbeit über romanische Kirchen in Südfrankreich nach vier nervenaufreibenden Jahren abgebrochen hatte, saß sie für einen Stundenlohn, der ihm die Tränen in die Augen trieb, hinter dem Schreibtisch einer Galerie im verwaisten Grenzgebiet zwischen Kreuzberg und Mitte, aber das dekorative Herumsitzen und Leutebeobachten waren ihr zuwider, und so begrub sie ihren Traum von der Kunst und begann für einen Schulbuchverlag die Rechteinhaber der Bilder zu ermitteln, mit denen in den Lehrbüchern die Aufgaben veranschaulicht werden sollten. Manchmal waren die Rechteinhaber nicht zu ermitteln, Berit fand sie trotzdem. Mehrere Male wurde ihr eine Redakteursstelle angeboten, sie lehnte jedes Mal ab, weil sie sich dann vor allem mit den Forderungen und Beschwerden der Autoren hätte herumschlagen müssen, vorwiegend pensionierte Oberstudienräte mit der Neigung zum besserwisserischen Monolog. Sie verabscheute diese Gespräche, konnte sich ihnen aber nur schwer entziehen, und die letzte Zeit vor ihrer Kündigung bestand Berits Beitrag zur ehelichen Abendunterhaltung vor allem in den selbstquälerisch detaillierten Nacherzählungen dieser Telefonate. Doch aus seinem Vorschlag, den Job sausen zu lassen, hörten ihre empfindlichen Ohren nur ein »Ich verdiene doch genug« heraus, und in dem Rat, sich nach etwas Neuem umzusehen, den Vorwurf, sich nicht genügend um Alternativen zu kümmern. Als Berit ihm eines Abends den Ausdruck einer Stellenanzeige auf die Zeitung schob, war seine Freude viel zu überschwänglich, um sie nicht misstrauisch zu machen.
    »Erbenermittler. Das klingt doch wie Kopfgeldjäger!?«
    »Ach was«, hatte er gesagt, obwohl seine Assoziationen in eine ähnliche Richtung getrieben waren. Er sah halbseidene Anwälte und fetthaarige Glücksritter aus amerikanischen Filmen, die Opfern von Verkehrs- oder Chemieunfällen millionenschwere Entschädigungszahlungen versprechen und von Gerechtigkeit und Wiedergutmachung reden, während sie schon den Beteiligungsvertrag zur Unterzeichnung über den Tisch schieben.
    Berit nahm an einem Schulungswochenende in einem Tagungshotel teil, von dem sie nicht nur Berge von Unterlagen – Einführungen ins Erbrecht, Grafiken zur Erbordnung, Lotsen durch den labyrinthischen Prozess der Erbscheinbeantragung –, sondern auch Geschichten mitbrachte, die sich nach drittklassigen Vorabendserien anhörten. »Ein Schweizer Trapezkünstler, urplötzlich an einer seltenen Form des Knochenschwundes erkrankt, stürzt sich verzweifelt von einem Felsen in den Vierwaldstädtersee; der ermittelte Erbe, ein in Luxemburg lebender Banker, schlägt das Erbe aus Angst aus, die zerbrechlichen Knochen des Verstorbenen gleich mit zu erben«, sagte sie kopfschüttelnd. Sie machte sich über die Rechercheure lustig, verkrachte Historiker, Vertreter für Rasierapparate oder »Allesundnichtskönner wie ich«, die seriös taten wie Geschichtsforscher und an den geselligen Abenden mit ihren Fällen angeberisch auftrumpften. Sie lachte Tränen, als sie den Geschäftsführer imitierte, der bei ihrer ersten Begegnung clownesk gegrinst und »Wir leben vom Tod« gesagt hatte, um nach bedeutungsvoller Pause hinzuzufügen: »Gar nicht mal schlecht, wie Sie sehen werden.«
    Die Tätigkeit war eintönig: Berit schickte formalisierte Briefe an Einwohnermeldeämter und Friedhofsverwaltungen, um Einblick in Geburts- oder Sterbeurkunden zu erhalten, und als sie nach Monaten zäher Bemühungen schließlich ihren ersten Erben in Hamburg ausfindig machte, hätte seine Reaktion nicht enttäuschender ausfallen können. Das voreheliche Kind eines ehemaligen S-Bahnfahrers schien sich für die bescheidene Erbschaft nur zu interessieren, um mit seinen verhassten Halbgeschwistern einen sinnlosen gerichtlichen Streit vom Zaun zu brechen, der die Überweisung ihrer Provision in
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