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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Schäfer
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bitte, wenn wir einen Neuzugang mit Prosopagnosie haben. Karsten Sieverth. Auf der Nachbarstation. Symptome wie vom Himmel gefallen.« Auf der anderen Seite herrschte Stille. »Schönen Abend noch.«
    Er saß in der kühler werdenden Abendluft. Das Brett der Schaukel schwankte leicht, und mit der Dämmerung schien der Wald, der gleich hinter der Hecke begann, näher zu rücken. Gabor lauschte nach Vögeln oder anderen Waldgeräuschen, hörte aber nur entfernte Juchzer und Schreie aus der Nachbarschaft. Er dachte an Berit, die wahrscheinlich wieder arbeitete. Er trug das restliche Geschirr in die Küche. Malte war lange eingeschlafen, aus Neles Zimmer drang durch die geschlossene Tür Musik. Während er die letzten Stufen zu Berits Zimmer im Dachgeschoss hochstieg, sah er durch die offene Tür einen Ausschnitt des Sofas, das sie sich von ihrer ersten Provision geleistet hatte. Sie saß am Schreibtisch, drehte langsam den Kopf, blickte ihm mit leicht gespitzten Lippen neugierig entgegen.

4
    Einige Tage später erhielt Gabor Besuch vom Leiter der Berufungskommission. Am späten Vormittag steckte Professor Overkamp, der fünfzehn Jahre lang der neurologischen Klinik als Direktor vorgestanden hatte und dem treuen Haus inzwischen als Berater verbunden war, seinen Kopf zur Tür seines Zimmers hinein und klopfte gegen den Türrahmen.
    »Darf ich?«
    Gabor legte einen Bericht zur Seite und stand auf. Mit energischen Schritten steuerte Overkamp auf ihn zu, schüttelte dabei den Kopf:
    »Sehen Sie: falsche Erinnerung. Ich bin felsenfest davon ausgegangen, dass man auch von Ihrem Büro das Allerheiligste sehen kann. Aber es ist nur der Tiergarten.« Während sie sich die Hand gaben, kam ihm Overkamp so nah, dass Gabor die langgestreckten Porenschlitze in seinen hageren Wangen sehen und den Pfefferminzatem riechen konnte, den sein breiter Mund mit den abschätzig nach unten zeigenden Winkeln verströmte. Gabor schwieg, denn alles, was ihm als Erwiderung auf der Zunge lag, hätte ihn weiter in die Defensive geraten lassen. Schweigend führte er seinen Gast zur Fensterfront, von der man, vorausgesetzt man blickte im spitzen Winkel nach links, einen Seitenflügel des Amtes entdecken konnte.
    »Tatsächlich!« Den Kopf zwischen die knochigen Schultern gezogen, spähte Overkamp nach draußen. Gabor nutzte die Gelegenheit und ging zum Schreibtisch zurück. »Da sitzen sie. Nehmen sich noch wichtiger als wir. Mich hat das immer erleichtert: im Schatten der Politik. Sie machen ihre Arbeit, damit wir in Ruhe unserer nachgehen können.« Overkamp richtete sich auf, den Kopf zur Seite gelegt, und sah für einen Moment wie ein blinder Habicht aus. »Störe ich Sie?«
    »Nicht im Geringsten.«
    »Was studieren Sie da?«
    »Ein Betroffener hat Leidensgenossen befragt und stellt seine Erkenntnisse mit freundlichen Grüßen der Forschung zur Verfügung. Die einen haben nur Gesichtsfeldlücken, die anderen können zwar Gesichter erkennen, vergessen sie aber kurze Zeit später wieder.«
    »Natürlich«, sagte Overkamp abwesend, während er, die Hände im Rücken verschränkt, Gabors Regal abschritt. Er nahm den Stein, den Nele als Vierjährige von einem Inselstrand mitgebracht hatte, betrachtete das Urwaldwesen darauf. Die khakifarbene Hose, das Poloshirt mit dem Emblem auf der Brust, das eingestanzte Muster im Leder der Schuhkappe, dazu die überrumpelnden Bemerkungen und das ewig joviale Grinsen – bis eben hatte Overkamp wie das Klischee eines golfspielenden Chefarztes gewirkt, aber das war nur Maskerade, eine Verkleidung, die er sich zugelegt hatte, seitdem er keinen Kittel mehr trug. Er hatte weder ein Büro noch eine klar umrissene Funktion, trieb sich aber noch immer gern auf den Stationen herum und einem närrischen Alten, der wie ein General in die Zimmer stürmte, öffneten sich die Türen gezwungenermaßen von allein. Doch jetzt, da Overkamp schwieg, war seine natürliche Autorität wieder spürbar. Er maß fast zwei Meter, hielt sich trotz seines Alters aufrecht und hatte, sobald er seine Augen nicht herumwandern ließ, einen stechenden Blick, der die Dinge hungrig an sich riss.
    »Ich war in Ihrer Vorlesung. Einführung in die Psychoneurologie. Vor den Semesterferien. Haben Sie mich nicht bemerkt?«
    »Doch«, sagte Gabor abwartend. Overkamp hatte in einer der oberen Reihen gesessen und zu seinem Freizeitoutfit eine Sonnenbrille mit kreisrunden Gläsern getragen. Gabor hatte nach der Vorlesung zu ihm hochgehen wollen, war aber von
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