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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Autoren: Horst Petri
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Antwort deutet sich hier an, die im weiteren Verlauf des Buches vertieft werden soll: Individuelle Entwicklungsverläufe und familiendynamische sowie gesellschaftliche Einflüsse führen zu einer vielschichtigen Transformation der primären Geschwisterliebe. Es handelt sich dabei um einen normalen Prozess der Individuation. Wo er ausbleibt, entstehen lebenslange pathologische Fixierungen, wie man sie besonders auf dem Hintergrund von Inzestbeziehungen oder gelegentlich bei Zwillingspaaren beobachtet. Häufig wird aber die Entwicklung der Geschwisterliebe nicht nur durch normale biografische Unterschiede, sondern durch negative Fremdeinwirkungen, in der Regel durch die Eltern, so stark beeinflusst, dass außer den krankhaften Fixierungen auch Entfremdungen eintreten, durch die die Geschwisterliebe vollständig verloren gehen kann. Die damit verbundenen schmerzhaften Erfahrungen erklären, warum das Geschwisterthema so häufig zum Tabu wird. Das Tabu heißt: »Du darfst dich nicht nach Geschwisterliebe sehnen, erstens, weil damit wieder die gleichen Enttäuschungen verbunden sein könnten wie damals, und zweitens,weil du dich damit klein, hilflos und abhängig machst und dich, wie früher als Säugling und Kleinkind, an jemanden auslieferst, von dem du dich längst gelöst haben müsstest.«
    Dass Menschen zu Opfern solcher Tabus werden und ihre Sehnsucht nach Geschwisterliebe abwehren müssen, ist verständlich auf dem Hintergrund einer Kultur, die die Familie als lebenslangen Hort zur Erfüllung von Liebes- und Geborgenheitswünschen stark entwertet hat. Solche Wünsche sind stattdessen durch Wertnormen ersetzt worden, die einen möglichst hohen Grad an Individualität, Autonomie und Mobilität fordern. Unausgesprochen schließen sie die Überwindung familiärer, insbesondere geschwisterlicher Bindungen ein.
    Jenseits solcher gesellschaftlichen Ideologien in den westlichen Industriegesellschaften finden wir das genannte Tabu auch in der Wissenschaft wieder. Die Psychoanalyse kann als Rechtfertigung für sich ins Feld führen, dass sie ihre ersten Einsichten der Behandlung von Kindern und Erwachsenen verdankt und dabei zunächst auf die Pathologie von Geschwisterbeziehungen gestoßen ist. Das Argument erweist sich aber nur als halbe Wahrheit. Denn weder die Psychoanalyse noch die ihr verwandten Therapieformen und Wissenschaften haben in der Folgezeit die fundamentale Bedeutung der Geschwisterliebe gründlicher untersucht, auch wenn ihre positiven Aspekte heute stärker ins Blickfeld geraten. Bis vor nicht allzu langer Zeit blieb jedoch der pathologische Geschwisterkonflikt der zentrale Fokus der Wissenschaft. Nun behauptet jede Wissenschaft von sich, »objektiv« zu sein. Besonders in den psychologischen und philosophischen Wissenschaften hat sich aber seit Langem herausgestellt, wie stark Untersuchungsinhalte und -ergebnisse von der subjektiven Betrachtung des Untersuchers beeinflusst werden. Bezogen auf das Tabu der Geschwisterliebe lässt sich der subjektive Faktor besonders eindrucksvoll am Begründer der Psychoanalyse selbst erhellen. VonFreud stammen die ersten tiefenpsychologischen Theorien über die Geschwisterbeziehung, die noch bis heute den wissenschaftlichen Diskurs bestimmen. Bank und Kahn haben dagegen ein breites Material gesichtet, das die von starker Dominanz, Unterdrückung und Feindseligkeit geprägte Beziehung des ältesten Bruders Sigmund zu seinen sechs jüngeren Geschwistern belegt. Nach Meinung der Autoren haben diese bis in die früheste Kindheit zurückreichenden Erfahrungen Freuds Theorie über Geschwisterkonflikte maßgeblich beeinflusst. 12
    Die dagegen hier von mir behauptete Existenz einer primären Geschwisterliebe lässt sich auch unter dem Aspekt des Vertrauens betrachten. Bisher wurde immer nur das »Urvertrauen« zwischen Mutter und Kind als Voraussetzung einer stabilen Persönlichkeitsentwicklung beschrieben. 13 Die zitierten Märchen »Hansel und Gretel« und »Brüderchen und Schwesterchen« gaben uns jedoch Hinweise darauf, dass die Ambivalenz in der Mutter-Kind-Beziehung in der Regel stärker ausgeprägt und mit ihren negativen Anteilen bedrohlicher ist als die Ambivalenz zwischen den Geschwistern in der frühen Phase ihrer Beziehung. Im Extremfall – wie in den Märchen beschrieben – ist das Vertrauen der Geschwister der einzige Garant ihrer Sicherheit. Das Vertrauen ist umso lebensnotwendiger, als es das »Urmisstrauen« in der Mutter-Kind-Beziehung kompensieren hilft.
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