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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Autoren: Horst Petri
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zwischen die Beine rollt, sie nimmt den Teddybär in die Arme, den er ihr hinhält, schaut Klaus zu, wie er bunte Bauklötze aufeinander türmt, um sie dann wieder mit Gejohle umzustürzen. Dann springt er auf das Sofa, holt einen Apfel vom Tisch, Lisa greift und versucht angestrengt, daran herumzulutschen. Klaus beißt ein kleines Stück ab und schiebt es Lisa in den Mund. Sie haben viel Zeit zusammen.Die Mutter ist sehr beschäftigt, und der Vater kommt meistens erst, wenn beide Kinder bereits im Bett liegen.
    Zwei Kinder bei der schrittweisen Eroberung der Welt. Klaus lässt Lisa nur wenig allein. Wenn die Mutter sie füttert, steht er dabei, schaut zu, manchmal darf er Lisa auch selbst füttern. Mittags, wenn Lisa schläft, geht er leise ins Zimmer, um zu sehen, ob sie schon wach ist; er will mit ihr spielen. Inzwischen hat er auch gelernt, wie man Lisa wickelt; es klappt noch nicht so ganz, aber helfen darf er. Nachts liegen sie in ihren Betten, ganz nah beieinander; Lisa brabbelt vor sich hin, und Klaus versucht ihr zu erklären, warum ein Hase so lange Ohren hat. Er ist der Erste, der hört, wenn Lisa nachts weint. Er rennt zu den Eltern: »Lisa weint!«
    Man könnte lange Seiten füllen, wenn man all die schillernden Facetten ausmalen wollte, die diese Zeit der Geschwisterbeziehung gestalten. Für Kinder dieses Alters eine unendlich gedehnte Zeit der Gemeinsamkeit. Dabei spielt die ständige Wiederholung aller Tätigkeiten eine wichtige Rolle, sie festigt die Engramme liebevoller Zweisamkeit. Schrittweise beginnt jedes der Kinder, sich aus der ursprünglichen Verschmelzung zu lösen, sein eigenes Ich weiter zu differenzieren und durch Abgrenzung das Ich des anderen stärker wahrzunehmen. Klaus nennt seine Schwester jetzt nicht mehr »Baby«, sondern »Lisa«, und Lisa würde »Klaus« sagen, wenn das nicht zu schwer für sie wäre; so sagt sie »Au« – und »Mama« vielleicht nur deswegen etwas eher, weil die Mutter ihr ständig im Ohr liegt: »Sag Mama.«
    Die Kommunikation zwischen den Geschwistern ist nicht nur zeitlich ungleich ausgedehnter als mit der Mutter, sondern auch lebendiger, fröhlicher und wegen des Wegfalls erwachsener Autorität auch weniger angstbesetzt. Die präverbale und averbale Verständigung der Geschwister geht fließend in eine gemeinsame Sprachfindung über, die den Erwachsenen unzugänglichist. Sie lachen über jeden Unsinn, vieles wird ihnen zum Witz. Der Reichtum kindgemäßer Erfahrungen, der Austausch eines breiten Spektrums an Emotionen, Körperkontakt, visueller und akustischer Wahrnehmung und die faszinierende Beobachtung aller Körpervorgänge, von der Nahrungsaufnahme bis zur Exkretion von Urin und Kot, bilden eine komplexe Struktur wechselseitiger Bezogenheit, die sich grundlegend von der Mutter-Kind-Beziehung unterscheidet. Die Kinder schaffen sich eine eigene Welt aus Realität und Fantasie, in der nur sie zu Hause sind. Für die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse sind die Mutter und der Vater unentbehrlich, aber ihre ständige Präsenz würde nur stören. Dagegen stellen ihre teilnehmende und begleitende Freude und ihre ungezwungene Förderung des Kontaktes zwischen den Kindern einen unschätzbaren Beitrag zu deren ungestörtem Wachstum dar.
    Es ist die Zeit, in der Eltern ihre Kinder am häufigsten fotografieren: Lisa und Klaus liegen eng umschlungen in Lisas kleinem Bett; sie plantschen in der Badewanne; beide streicheln einen Hund; sie hocken zusammen auf einer Wiese und pflücken Gänseblümchen; sie liegen auf dem Fußboden und betrachten den bunten Schmetterling im Bilderbuch; Klaus umarmt seine Schwester und küsst sie. Schnappschüsse einer sich festigenden Geschwisterliebe. In den vielen Fotografien halten die Eltern auch ihr eigenes verlorenes Paradies noch ein letztes Mal fest. Denn an diese frühe Zeit können wir uns nur noch dunkel und lückenhaft erinnern. Und doch legt sie den Grundstein für eine lebenslange Beziehung, für eine Geschwisterliebe, die noch durch manche Stürme gehen wird, deren Fundament uns aber mehr trägt, als uns oftmals bewusst ist. So ersetzen die Bilder nicht nur die Erinnerung im Spiegel der eigenen Kinder, sondern drücken auch die unbewusste Sehnsucht nach einem Zustand aus, den wir durch verschiedene Abwehrmechanismen von unserem Bewusstsein fernhalten.
    Der Hinweis auf diesen Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach Geschwisterliebe und ihrer Abwehr macht einen Exkurs notwendig, um die weiteren Entwicklungsstufen dieser
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