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German Angst

German Angst

Titel: German Angst
Autoren: Friedrich Ani
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Stacheldrahtzäunen, hinter denen von schwer bewaffneten Soldaten militärische Anlagen bewacht wurden, am Ufer eines braunen Flusses entlang, der die Stadt durchzog und in die Lagune mündete, quer über eine vierspurige Ausfallstraße, durch kreischendes Hupen und unverständliches Grölen, an grünen Verkehrsschildern vorbei, die Lucy nicht beachtete, sie lief einfach weiter, keuchend und hustend durch den Gestank und den breiigen Wind, der manchmal den Atem des Meeres mitbrachte. Immer weiter lief sie und wieder zurück durch eine Straße, in der sich eine Werkstatt neben der anderen befand, und in jeder wurden Särge hergestellt, und sie dachte nichts als: Jetzt sterb ich jetzt sterb ich und alle glotzen mich an und ich hab mich nicht mal von Papa verabschiedet, denn der ist vor mir gestorben.
    Aber sie starb nicht, sie lief weiter, und je länger sie lief – sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon unterwegs war in dieser gefräßigen, wabernden Riesenstadt –, umso leichter fühlte sie sich, und sie dachte: Ich komm dich besuchen, Papa, ich werd dich finden, ich bleib so lange hier, bis ich dich gefunden hab, und dann sind wir zusammen und niemand kann uns vertreiben. Die Leute gafften sie an und das machte ihr nichts aus, sie hatte keinen Vater mehr, sie hatte keine Mutter mehr, sie hatte niemand mehr, nur noch sich selbst. Und das war es wert, dachte sie auf einmal. Das ist es wert, dass es mich gibt, das ist es wert. Und so etwas hatte sie noch nie gedacht und sie rannte weiter und hörte Möwen schreien und die Sirenen von Schiffen, und dann sah sie den Strand und hörte Wellen schlagen und im Sand tanzte eine Gruppe weiß gekleideter Männer. Sie reckten die Fäuste und sangen einen monotonen Singsang, und Lucy schleuderte mit den Turnschuhen Sand vor sich her, und sie hörte eine Stimme, die rief: Where ya goin to? Where ya goin to? Und noch im Laufen drehte sie sich um die eigene Achse und sah einen alten einarmigen Mann, der unter die Achsel seines Armstumpfes eine Trommel geklemmt hatte, in seinem Mund steckten nur noch zwei kuriose Zähne, und sie winkte ihm zu, und er fing an, wie besessen die Trommel zu schlagen, und sie rannte weiter, an Lagerhallen und Docks vorbei, hörte Schlagermusik aus einem Schuppen, in dessen Tür ein Mann lehnte und im Rhythmus mitklatschte. Sie kletterte über eine Steinmauer, hinter der Palmen wuchsen, lief über einen leeren ovalen Platz auf ein windschiefes Bushäuschen zu und keuchend ließ sie sich dagegen fallen.
    Sie spuckte in den Kies, röchelte, hustete, ging in die Hocke, wischte sich den Schweiß aus den Augen und leckte sich die salzigen Lippen. Ihre weißen Jeans waren von dunklen Flecken und Spritzern übersät und ihr neuer Pullover hatte einen Riss. Nur ihre Bomberjacke sah aus wie immer, auch wenn die Taschen leer waren und man ihr alle Messer abgenommen hatte. Vielleicht hätte sie die jetzt gut brauchen können, aber sie wollte nicht an das denken, was war. Jetzt war sie hier. Irgendwo lag ihr Vater, von einem Auto überfahren, und sie war einfach weggelaufen. Wenn du tot bist, ist es doch egal, wo ich bin. Wenn du tot bist, bin ich überall gleich nah bei dir, stimmts?
    Auf drei niedrige Pflöcke waren zwei schmale Bretter genagelt. Lucy setzte sich drauf. Dann rutschte sie an den Rand und legte sich hin, bleich und zitternd vor Erschöpfung. Und beseelt von großem Staunen.
    Die Sonne zerriss den Dunstmantel und über einigen Stadtteilen färbte sich der Himmel indigoblau. Durch die Löcher im Wellblechdach des Bushäuschens fiel ein Sonnenstrahl und Lucy blinzelte.
    Und wie von selbst fielen ihr die Worte ein, die ihre Lehrerin vor einem Jahr vorgelesen hatte. Lucy war sofort losgezogen und hatte das Buch in der nächsten Buchhandlung geklaut. Sie konnte inzwischen ganze Passagen auswendig, denn die Geschichten kamen ihr vor, als hätte sie sie schon oft gehört. Sie erzählte niemandem davon, die Worte gehörten ihr allein, sie brauchte niemandem etwas zu beweisen, es waren ihre Worte, und wenn sie sie hören wollte, erklangen sie in ihr wie Musik.
    »Wie der Ozean ist das Göttliche in euch«, sagte sie leise. Beinah war es ein Summen. »Es bleibt ewig unbefleckt, und wie der Äther erhebt es nur die Beflügelten, wie die Sonne auch ist das Göttliche in euch. Es kennt nicht die Gänge des Maulwurfs, noch sucht es die Höhlen der Schlange. Doch das Göttliche wohnt nicht allein in euerm Sinn. Vieles in euch ist noch Mensch und vieles in euch
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