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German Angst

German Angst

Titel: German Angst
Autoren: Friedrich Ani
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der milchigen Stimme. Endlich hatte sie einen Ausdruck dafür, wie er sprach: milchig. Sie hasste Milch, hatte sie schon als Kind gehasst, frische Kuhmilch war das ekelhafteste Getränk, das es gab.
    »Bitte sehen Sie mich an!«, sagte er.
    Sie kommen zum falschen Zeitpunkt, sagte sie nicht zu ihm, ich tue nämlich niemandem mehr einen Gefallen, meine Gefallenszeit ist vorbei.
    »Sie dürfen noch etwas sagen«, sagte er.
    Sie sah, wie Feuerwehrmänner aus den Fahrzeugen sprangen, wie Polizisten auf der Straße die Arme ausbreiteten und die Autos anhielten, wie einige Leute fotografierten, wie zwei Notarztwagen kamen, wie eine Frau zu weinen begann. Wegen mir, wegen mir?
    »Sie haben unserem Volk einen Dienst erwiesen, Frau Horn«, sagte der Mann neben ihr auf der über das Gesims hinausragenden Eisenplatte. Seine rechte Hand berührte beinah ihre linke. Er roch nach Aftershave, Shampoo und Bier, kaum merklich, aber, fand sie, für die Morgenluft beleidigend genug. »Sie werden richtig handeln von jetzt an, da bin ich sicher, und Sie werden von den richtigen Menschen geachtet werden. Ich lasse Sie jetzt allein, genießen Sie, was Sie erreicht haben. Jeder soll Sie ansehen und sagen: eine vorbildhafte Frau! Sie sind ab heute das Wahrzeichen dieser Stadt, deswegen sind Sie hier am richtigen Platz. Deutschland sieht Sie an, Frau Horn!«
    Das ist schlecht, ich bin nämlich unansehnlich heute. Gut, dass du mich nicht sehen kannst, mon amour, ich bin eine enttäuschende Erscheinung, so früh am Morgen und schon so verlebt. Ich wollte dich feiern bis zum Ende meines Lebens, aber daraus wird nichts, ich hab mich überschätzt. Mit dir, hab ich geglaubt, werd ich sogar mein Alter mögen. Als könnte man das lernen, sein Alter mögen! Man sollte lernen zu lieben trotz allem, man sollte lernen zu lieben oder es lassen. Und ich, ich wollt es nie lassen, ich hab gesucht und gesucht, ich mochte die Männer, ich liebte sie nie, aber ich mochte sie und ihr Gebaren, ihr Strampeln und ihr Bemühen, mich und vor allem sich selbst nicht zu enttäuschen. Ich hab mich untergeordnet, weil ich wollte, dass es eine Freude ist für den Mann und keine Last und keine Qual und keine Bürde. Manche dachten, ich wär schwach und leicht zu haben. Ganz falsch! Ich war stark und nicht zu haben, aber ich schlief gern mit ihnen.
    »Frau Horn!«, hörte sie jemanden rufen. »Natalia!«
    In deinen Umarmungen habe ich tatsächlich vergessen, dass ich nichts weiter bin als ein allein lebender Mensch, dem es nicht gelingt, einfach da zu sein und Ja zu jemand anderem zu sagen. Mit dir ist mir das gelungen, die Illusion war vollständig und es war die schönste aller Illusionen.
    »Haben Sie keine Angst! Wir holen Sie!«, rief drunten eine Stimme.
    »Seien Sie stolz auf sich!«, sagte Josef Rossi. Jetzt wandte sie ihm den Kopf zu. Von unten hörte sie ein Raunen. Rossi sah sie an, sein Mund zuckte, aus seiner Nase tropfte Rotz.
    Langsam hob Natalia den rechten Arm und streckte die Finger aus, ein starres, sekundenlanges Winken, wie ein sphärisches Zeichen. Dann legte sie die Hand auf ihre Wange, rieb diese sanft und neigte den Kopf, als wäre es die Hand eines anderen und sie ruhte auf ihr aus. Mit der Linken griff sie nach Rossis Hand.
    »Sie tun mir weh«, sagte er. »Lassen Sie mich los!«
    »Ja«, sagte sie und sprang. Sie sprang über die Kante der Eisenplatte hinaus und strangulierte sich in dem Augenblick, in dem sie Rossis Hand losließ. Er stürzte in die Tiefe. Unter den erschrockenen Blicken der Sanitäter starb er.
    Vor der letzten Planke des Gerüsts baumelte Natalias Leiche, drehte sich ein wenig im Wind und ihre Beine schlugen gegen den Slogan: DIE ZUKUNFT DES JAHRHUNDERTS IST JETZT. Wenige Minuten später trafen zwei Fernsehteams ein und die erste Nahaufnahme, die ein Kameramann machte, zeigte Natalias weißes Gesicht, erhellt von der Morgensonne, voller Erhabenheit und Demut, und in den offenen Augen den Widerschein einer entzündeten Seele.

25   18. August, 05.39 Uhr, Ortszeit
    M ilitärpolizisten fuhren sie in einem Jeep vom Flughafen zwanzig Kilometer in die Innenstadt. Dort sollten sie im Polizeipräsidium auf Nachrichten aus Deutschland warten und in der Zwischenzeit die Formulare für ihren vorläufigen Aufenthalt in Lagos ausfüllen. Der deutsche Botschafter würde ihnen mit einem Dolmetscher dabei helfen. Möglicherweise könnten Arano und seine Tochter die ersten Wochen in der Deutschen Botschaft auf Victoria Island
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