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German Angst

German Angst

Titel: German Angst
Autoren: Friedrich Ani
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kam das her, das gehört doch gar nicht hierher!
    Sie drehte sich im Kreis. Sie sah einen weißen Mercedes, der gegen die Mauer eines Supermarkts gefahren war. Ein Mann stieg aus und taumelte wie sie verwirrt im Kreis, dann kam er auf sie zu, aber das sah sie nicht mehr. Vor dem dunklen Eingang, neben dem das Filmplakat hing, lag ein Mann auf dem Boden, die Beine gekrümmt, die Arme nach vorn gestreckt, in einem weißen, leuchtenden Hemd. Das Hemd leuchtete, Lucy sah es genau, während sie näher kam und sich auf den Kühlerhauben der Fahrzeuge abstützte, die heiß waren und klebrig wie die Luft. Sie tastete sich zwischen den Stoßstangen hindurch, und der Mann lag immer noch da und bewegte sich nicht.
    »Papa«, flüsterte sie, zwei Meter entfernt. »Steh auf, steh doch auf!«
    Lars kletterte auf das Dach eines Taxis und richtete die Kamera auf Lucy.
    Sie kniete neben ihrem Vater. Aus seinem Mund rann Blut. Aus seinem linken Auge rann Blut. Aus seinem Hals rann Blut. Verzagt näherte sie ihre Hand seiner Wange, sie traute sich nicht ihn zu streicheln, und sie hatte plötzlich keine Kraft dazu. Und sie sah, dass ihre Hände aufgeschürft waren und ebenfalls bluteten, ihr Blut vermischte sich mit seinem. Dann streckte sie die Beine aus und legte sich neben ihn auf den Asphalt. Die Augen ihres Vaters waren offen und starr.
    »Excuse me«, hörte sie jemanden sagen, »my name is Clarence Toby…« Sie hob den Kopf. Ein Weißer um die fünfzig stand vor ihr, sein Haar war zerzaust, auf seiner Stirn klaffte eine Wunde, sein Jackett war zerrissen. Er wollte noch etwas sagen, aber er brachte die Worte nicht heraus, sie steckten ihm wie Gräten im Hals. Er hatte auf die Bremse seines alten Mercedes getreten und die Bremsen funktionierten nicht, das Pedal ging durch bis zum Boden, er hämmerte mit dem Fuß darauf, einmal zweimal viermal fünfmal, kein Widerstand, der Wagen raste durch die Straße. Toby hupte, ausweichen konnte er nicht, er hupte und hupte und trat aufs Pedal und nichts passierte, die verfluchte Kiste versagte, und das nach diesem großartigen Fest im Quo-Vadis-Restaurant auf Lagos Island, wo sein Freund Benjamin mit zweihundert Freunden seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte…
    »Excuse me…«
    Ein Polizist führte Toby aus dem Pulk der Schaulustigen ins Polizeipräsidium.
    In dem Augenblick, als sich Tabor Süden neben Lucy kniete, sprang sie auf. Sie war so schnell, dass er nicht einmal mitbekam, in welche Richtung sie lief.
    Sie lief einfach los. Schlug mit den Armen um sich, trieb die Menge der Gaffer auseinander und verschwand in einer Gasse.
    Ratlos sahen Nicole, ihre beiden Kollegen und die Militärpolizisten zu, wie Süden sich aufrichtete, seine langen Haare aus dem Gesicht strich, den Kopf in den Nacken legte und einen Schrei ausstieß. Einen Schrei, der den Lärm zum Verstummen brachte und die Leute aus den Häusern trieb, einen Schrei, der sekundenlang den bleiernen Morgen sprengte und dann so abrupt und unheimlich abbrach, wie er begonnen hatte. Bevor die Blicke und Stimmen ihn wieder erreichten, rannte Tabor Süden die Straße hinunter und brüllte in maßloser Not Lucys Namen den Häusern entgegen.
    Vorbei an Holzbuden und Wellblechhütten, an Ständen voller Körbe und Holzschnitzereien, vorbei an dicken Frauen mit opulenten Kopftüchern, die Zigaretten und Zwiebeln anboten, an Jugendlichen in roten ausgebleichten Jeans, die mit Batterien, Autoreifen und Armbändern handelten, durch die kerosingetränkte Luft, die an der nächsten Ecke nach Fisch und Gewürzen roch, vorbei an endlosen Reihen gedrungener Häuser mit schiefen Dächern, die beim geringsten Beben in sich zusammenfallen würden wie Streichholzgebilde, hinein in saubere Straßen, gesäumt von weitläufigen Grundstücken mit Villen im Kolonialstil und mit orientalischen Schnörkeln oder maurischen Erkern. Sie lief an allem vorbei, ohne Ziel und Mut, vorbei an Wolkenkratzern aus Stahl und Glas, an Parks, die loderten von roten und gelben Blüten, an Bäumen mit meterbreiten Kronen und aberwitzig verrenkten Ästen, vorbei an Restaurants, auf deren Terrassen schon am Morgen vereinzelt Gäste saßen und Bloody Mary tranken und Yam mit Rührei aßen, vorbei an Fabrikhallen, aus deren Schloten fetter Rauch stieg, vorbei an Parkplätzen, voll gestopft mit Hunderten gebrauchter europäischer Autos, durch Gassen, in denen der Staub alles Licht schluckte und nackte Kinder mit Steinen aufeinander warfen, entlang an
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