Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
German Angst

German Angst

Titel: German Angst
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
eines Tempels. Der Rücken einer massigen Figur und die breiten Hinterteile zweier Löwen waren oben hinter dem Gesims zu erkennen. Insgesamt waren es vier Löwen, die in zwanzig Meter Höhe einen eisernen Wagen zogen. Die Schutzherrin des Landes, eine Matrone aus Bronze, fünf Meter hoch, thronte auf dem Gefährt, einen Stab kampfbereit in der Hand.
    Bis hinauf zur Plattform, auf der der Wagen aufbruchbereit in Richtung Norden stand, reichte ein Baugerüst, das die drei Bogen des Tores verdeckte. Zwei riesige Werbeplakate zeigten das neueste Modell einer bayerischen Autofirma mit dem Slogan: DIE ZUKUNFT DES JAHRHUNDERTS IST JETZT. In einer Nebenstraße hielt Rossi an, löste das Seil von der Lenksäule, öffnete die Fahrertür und zwang Natalia, auf seiner Seite aus dem Auto zu klettern, den Kopf in der Schlinge.
    »Jetzt steigen wir hoch hinauf«, sagte er und atmete tief ein.
    »Das ist ein erhabener Augenblick für uns beide.«
    Eine kleine Eisentreppe führte vor ihnen zur ersten Ebene des Gerüsts.
    Natalia musste vorausgehen, Rossi blieb dicht hinter ihr und hielt das Seil fest. Einige Autos fuhren vorüber. An die Fassaden der klassizistischen Bauten links und rechts der schnurgeraden Straße schmiegte sich sanft das frühe Licht, die Glocken der Ludwigskirche schlugen viermal kurz und fünfmal lang.
    Als Natalia die Glocken hörte, dachte sie daran, wie sie als Kind vor dem Altar dieser Kirche gestanden und das Fresko mit dem Jüngsten Gericht betrachtet hatte. Sie fürchtete damals, Gott würde ihr die Sünden nicht rechtzeitig erlassen. Jetzt, da sie nicht mehr an Sünden glaubte, kniete sie trotzdem manchmal vor dem Altar nieder und dankte Gott oder wem auch immer für die Freude und die Furchtlosigkeit, mit der sie so oft am Morgen erwachte, denn sie brauchte nur die Hand auszustrecken, um ihre schwarze Liebe zu berühren. Mit einer leichten Drehung des Kopfes warf sie einen Blick auf Rossi, der zwei Stufen hinter ihr war und auf jeden seiner Schritte achtete. Dass er es war, der, wie er ihr stolz erzählte, Chris gezwungen hatte wegzugehen, war ihr egal. Es hätte jeder andere sein können, jeder, der seine eigene Haut verabscheute. Nur einer, davon war Natalia überzeugt, der jedes Mal, wenn er sich selbst berührte, vor Ekel erzitterte, konnte eine Haut hassen, die ihm noch viel fremder vorkam als seine eigene, und jeden beneiden, der stolz auf seine Haut war und sie würdevoll behandelte. Auf dem kleinen Bildschirm im Auto hatte sie Chris im Flugzeug sitzen sehen. Mon amour, jetzt ist es Morgen und ich strecke vergeblich meine Hand aus. Wie dumm sie alle sind, ich hätte dich freiwillig begleitet und wenn sie Lucy verurteilt und abgeschoben hätten, wären wir zu dritt gereist, zu dritt als eine Familie. Ich kann dich sehen, du bist winzig auf diesem Gerät und Lucy ist noch winziger, aber ich kann euch beide sehen, ich würde euch so gern winken.
    Sie hatten die Scheitelhöhe der Bogen fast erreicht. Über ihnen verlief eine schwarze Schrift quer über den weißgelben Sandstein: DEM SIEG GEWEIHT, IM KRIEG ZERSTÖRT, ZUM FRIEDEN MAHNEND. – »Schneller!«, keuchte Rossi. »Die Sonne geht gleich auf!«
    Weißer Rauch hing über dem Hafengelände, mehrspurige Ringstraßen umschlossen ein gigantisches Areal aus Wellblechhütten, Hochhäusern, Fabrikgebäuden, Hafenanlagen. Auf dem braunen breiten Fluss zogen schwer beladene Frachtkähne dahin, so langsam, als würden sie stehen, und Lucy drückte ihre Nase an das Bordfenster. Doch lange durfte sie nicht hinunterschauen. Arano nahm ihre Hand, damit sie sich neben ihn auf den Boden kniete.
    »Gott, unser Herr«, betete Arano, »Du bist unser Schutz und unsere Stimme, wenn Du sprichst, hören wir Dir zu und befolgen Deine Worte…«
    Tabor Süden war sitzen geblieben, vornüber gebeugt, die Arme auf den Oberschenkeln. Seine Hände hingen schlaff herab. Mit seinem unrasierten Gesicht und seinen strähnigen, ungewaschenen Haaren wirkte er wie ein Mann, den die Erschöpfung niederdrückte oder ein marterndes Gewicht. Der Kameramann Lars filmte Vater und Tochter und Nicole Sorek machte sich Notizen. Die beiden Stewardessen standen in einiger Entfernung, verständigten sich mit Blicken und waren offensichtlich froh, endlich am Ziel zu sein. Weder Arano noch seine Tochter hatten während der neun Flugstunden ein Wort mit ihnen gewechselt. Auch der Polizist hatte auf die Frage, ob er etwas zu essen möchte, nur den Kopf geschüttelt.
    »… Gib unserer Freundin,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher