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German Angst

German Angst

Titel: German Angst
Autoren: Friedrich Ani
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verbringen.
    Mehrmals sah der Offizier mit den vielen Rangabzeichen Lucy ins Gesicht, als erwarte er Zustimmung von ihr. Aber sie sagte kein Wort. Im Jeep, dessen Verdeck geschlossen war, roch es nach Zigarettenrauch und nassem Gummi und Lucy hielt sich beide Hände vor die Nase. Durch die beschlagene Scheibe, die sie mit dem Ellbogen freiwischte, sah sie hinter kahlen Feldern vielstöckige Wohnblocks, dann glasverspiegelte Hochhäuser, Hotels, Bürogebäude, Banken und dazwischen gedrungene Hütten, wacklige Schuppen, vor denen schwarze Frauen bunte Kleider und Haushaltswaren zum Verkauf anboten. Und überall Autos und überall Menschen, schon früh am Morgen. Lucy staunte über diesen Fluss aus Leibern und Karosserien, alles schien sich durcheinander zu bewegen, zuerst aufeinander zu, dann, nach einer kurzen unbegreiflichen Vermengung, wieder voneinander weg, in einem gleichmäßigen lärmenden Rhythmus. An alten schiefen Fassaden hingen überdimensionale Werbeplakate, jedenfalls kamen sie Lucy so vor, da sie auf die Entfernung McDonalds, Coca Cola und IBM lesen konnte. Vor einem achteckigen Gebäude mit zwei Reihen von Balkonen, die um das Haus herumführten, klebte auf einer breiten weißen Tafel ein Plakat, von dem sich Lucy nur der Schriftzug einprägte, als sie mit dem Jeep daran vorbeirasten: THE FUTURE OF THE CENTURY IS NOW.
    An einer Kreuzung nahe der Kathedrale mussten sie anhalten. Eine Gruppe von ungefähr hundert schwarz gekleideten Menblickenden Jungen an der Hand hielt. Das Gesicht des Mannes war ein Planet der Verlorenheit.
    Fassungslos schaute Lucy hinüber. Und dann bemerkte sie, dass auch ihr Vater hinschaute und sie wusste, sie dachten beide dasselbe.
    Diesen Film hatten sie an dem Abend gesehen, als Linda allein zu Hause blieb und das Feuer ausbrach. Vater und Tochter wollten ein wenig spazieren gehen und kamen an einem Programmkino vorbei, in dem der Film gerade anfing. Arano sagte, er habe ihn schon fünfmal gesehen und er werde ihn sich bis an sein Lebensende immer wieder ansehen. Wieso denn?, sagte Lucy, und er erwiderte: Weil es ein großer Film ist. Kenn ich nicht, sagte Lucy. Willst du ihn sehen?, sagte er und sie: Nö. Und dann gingen sie doch rein. Und als dem Mann mit dem Hut und dem schäbigen Anzug sein Fahrrad gestohlen wird, ruft Lucy laut in den Saal: So was Fieses!, und danach sitzt sie stumm bis zum Schluss da und Arano hört sie leise weinen, aber er weiß, er darf sie nicht drauf ansprechen. Hat er dir gefallen?, fragte er hinterher. Geht so, sagte sie. Den Typ, der das Fahrrad geklaut hat, hätt ich mit Speichen gespickt, und zwar vollkörpermäßig! Und währenddessen hatten die Flammen Lindas Schönheit aufgefressen.
    »Schau doch mal, Lucy!«, rief Arano und zeigte auf das Plakat. »Siehst du das?« Und schon rannte er los. Wieso rennst du denn weg?, dachte Lucy. Wieso rennt er weg, er hat den Film doch schon sechsmal gesehen, und auch beim siebten Mal wird der Typ, der das Fahrrad geklaut hat, nicht bestraft. Wieso rennst du denn weg? Sein weißes Hemd hing ihm aus der Hose. Und das Hupen wurde immer lauter. Die Militärpolizisten standen reglos da. Nur Lucy nicht.
    Sie sprang auf die Straße und streckte beide Hände nach ihrem Vater aus, unbewusst, sie tat es, weil etwas in ihr ihn festhalten wollte, aufhalten, bei sich behalten. Sie streckte die Arme aus und wollte hinter ihm herrennen, aber sie kam nicht von der Stelle. Ohne dass sie es bemerkt hätte, hatten sich zwei Arme um sie geschlungen und hielten sie fest, sie hoben sie hoch und zerrten sie zurück. Und plötzlich hörte sie einen dumpfen Schlag, Glas splitterte und Metall schepperte und ein Hupen raste durch ihren Kopf wie ein Pfeil, und sie landete vor den Rädern des Jeeps auf dem Boden. Ein Krachen war zu hören, Leute schrien, Kisten, Schachteln und Mülltonnen flogen über die Straße, mit quietschenden Reifen kamen die Autos und Motorräder zum Stillstand. Und die Taxifahrer hupten wütend.
    Jemand half ihr aufzustehen. Sie sah ihn an. Tabor Süden hielt ihren Arm fest und sie begriff nicht, was geschehen war. Sehr langsam drehte sie den Kopf. Etwas Weißes flatterte durch die Luft, flatterte vor ihren Augen. Wie ein verunglückter Schmetterling aus Schnee, dachte sie und erkannte, was es war: Es war ein Stück Papier, ein Blatt, das ihre Schrift trug, das Blatt, auf das sie ihr Gedicht geschrieben hatte. Es tanzte in der klebrigen, diesigen Luft, es sah aus, als hinge es an einem unsichtbaren Faden, wo
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