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Georgette Heyer

Georgette Heyer

Titel: Georgette Heyer
Autoren: Lord Sherry
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gestürzt; ein halbzugerittenes Pferd brach ihm ein Bein; er
begleitete den Viscount auf einigen seiner gewagtesten Exkursionen, und alle
waren überzeugt, daß er bereit war, jede Tollkühnheit zu seines Herrn Schutz
auf sich zu nehmen, einschließlich eines Mordes.
    Während er
hinter dem Viscount an den Gurten des Kabrioletts hing, bemerkte er gelassen,
er habe gleich gewußt, daß sie nicht mehr als zwei Tage in diesem Haus bleiben
würden. Da er auf diese Bemerkung keine Antwort erhielt, versank er in
Schweigen, das er nach etwa einer Meile nur unterbrach, um dem Viscount zu
raten, die Pferde an der Kurve zu zügeln, falls er nicht wünschte, daß sie
beide auf ihre Gesichtserker fielen. Sein Ton ließ aber erkennen, daß er,
falls der Viscount dies wünschen sollte, freudigst bereit sei, auch dieses
Schicksal zu erdulden.
    Der
Viscount, der inzwischen Zeit gehabt hatte, seinen ersten Grimm abzureagieren,
zügelte dann doch seine Pferde und nahm die Kurve nicht rascher als in leichtem
Trab. Die Hauptstraße nach London war noch einige Meilen entfernt und der
Feldweg, der Sheringham Place mit ihr verband, lief einige Zeit an den Äckern
des Viscount entlang, um sich plötzlich davonzuschlängeln und zu einem kleinen
Dörfchen, einigen verstreuten Hütten, und dem bescheidenen Gut zu führen, das
Mr. Humphry Bagshot gehörte. Das Haus Mr. Bagshots lag noch ziemlich weit
entfernt von dem Feldweg, es wurde durch Bäume und Büsche verborgen und war
von einer niedrigen Steinmauer umgeben. Der Viscount, der seine Aufmerksamkeit
ziemlich gleichmäßig zwischen seine Pferde und seine letzte Enttäuschung
teilte, starrte düster vor sich auf die Straße und hätte keinen Blick auf das
Mäuerchen geworfen, wenn ihm sein Reitknecht nicht plötzlich geraten hätte, das
«Licht seiner Augen» nach links zu wenden.
    «Da winkt
Ihnen ein Mädchen, Guv'nor», benachrichtigte er seinen Herrn.
    Der
Viscount wandte den Kopf und bemerkte, daß er an einer Dame vorbeijagte, die
auf der Mauerkrone saß und ihn ein wenig sehnsüchtig ansah. Als er die junge
Dame erkannte, zügelte er seine Pferde, trieb sie zurück und rief: «Hallo,
Fratz!»
    Miss Hero
Wantage schien die Art der Begrüßung durchaus nicht übelzunehmen. Eine leichte
Röte färbte ihre Wangen, sie lächelte scheu und erwiderte: «Hallo, Sherry!»
    Der
Viscount betrachtete sie aufmerksam. Sie war eine noch sehr junge Dame und sah
in diesem Augenblick nicht sonderlich vorteilhaft aus. Das weite Gewand, das
sie trug, hatte nicht nur eine äußerst unkleidsame Farbe, sie hatte es
offensichtlich auch aus zweiter Hand übernommen, denn es sah so aus, als wäre
es ursprünglich für ein weit größeres Mädchen gearbeitet und nachher
ungeschickt für ihre winzige Gestalt abgeändert worden. Ein grauer Mantel war
um ihren Hals geknüpft, dessen Kapuze ihr über die Schultern hing; in der Hand
hielt sie ein zerknülltes feuchtes Taschentuch. Auf ihren Wangen waren
Tränenspuren zu entdecken, und ihre großen grauen Augen waren gerötet und ein
wenig trübe. Die dunklen Locken, die sich aus einem zerschlissenen Band gelöst
hatten, waren unordentlich herabgeglitten.
    «Hallo, was
ist denn los?» fragte der Viscount plötzlich, als er die Tränenspuren bemerkte.
    Miss
Wantage schluchzte krampfhaft auf, dann sagte sie kurz und bündig: «Alles!»
    Der
Viscount war ein gutmütiger junger Mann, und wenn er an Miss Wantage dachte,
was sich nicht sehr häufig ereignete, dann geschah es mit einer Art nachsichtiger
Zuneigung. In den Flegeljahren hatte er sich ihre ständige Dienstbereitschaft
zunutze gemacht, er hatte sie im Kricket unterrichtet, dafür mußte sie aber mit
der schweren Jagdtasche hinter ihm hertrotten, wenn er an den Hecken ein wenig
schießen ging. Er hatte sie tyrannisiert, sie angeschrien, sie geohrfeigt und
sie gezwungen, sich mit den verschiedensten Sportarten und allerlei Kurzweil
zu beschäftigen, die sie mit Angst erfüllten. Aber er hatte ihr gestattet,
hinter ihm herzulaufen, und niemandem andern erlaubt, sie zu hänseln oder
schlecht zu behandeln. Sie befand sich in keiner sehr glücklichen Lage. Sie
war Waise und wurde im Alter von acht Jahren aus Gnade und Barmherzigkeit im
Hause einer Cousine aufgenommen, um mit deren drei Töchtern Cassandra, Eudora
und Sophronia erzogen zu werden. Sie wurden gemeinsam unterrichtet, und sie
durfte ihre ausgewachsenen Kleider tragen, wofür sie aber zahllose Botengänge
machen mußte – da derlei Dienste, wie ihr Cousine
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