Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
E INS
    Ich bin lange fort gewesen. In der schmal gewordenen, übernächtigten Gestalt, die mir am Bahnsteig entgegentritt, erkenne ich meine Mutter erst auf den zweiten Blick – aber spüre sofort, wie sie es merkt, wie ihre Augen streng und vorwurfsvoll werden. Was weißt du Landei schon vom Krieg ...?, sehe ich sie denken. Und höre sie sagen: »Du bist verrückt geworden, Philippa. Ich kann dich hier wahrlich nicht gebrauchen!«
    Das sind ihre Worte zu meiner Begrüßung, nach fast zwei Jahren. Und Philippa! So nennt sie mich nur, wenn ich im Begriff bin, sie ernsthaft zu verärgern. Philippa heißt letzte Warnung, ich bin im Allgemeinen nur Fritzi. Hat sie das vergessen?
    Ich muss meine Blicke im Zaum halten. Auf der Straße merkt man mir schon nichts mehr an. Nur dass da, streng genommen, gar keine Straße mehr ist. Die schwarzen Ruinen, die Trümmerberge, nein: das riesige Trümmerfeld der Stadt aus dem Zug heraus schon kilometerweit zu sehen, ist eine Sache – es zu betreten, zu riechen, zu atmen, darauf kann kein Blick aus dem Fenster vorbereiten.
    »Ich habe das Fahrrad dabei!«, verkündet Mutter. Noch eine Überraschung. Ich kenne sie nur Auto fahrend, mit Lederhandschuhen und Hut, wusste nicht einmal, dass sie radeln kann. Kann sie? Erst einmal schieben wir mein altes Rad nur zwischen uns her und balancieren auf dem Gepäckträger meinen Koffer. Die Stofftasche mit ihren Einkäufen hat Mutter an den Lenker gehängt. Sie beult sich kaum, es ist fast nichts darin.
    Wir sind nicht die Einzigen, die schieben. Das Schieben gepäcküberladener Fahrräder und Kinderwagen scheint in Berlin gerade Mode zu sein. Die Ausgebombten der letzten Nacht retten, was zuretten ist, ins nächste Mauseloch. Ein einzelner Kastenwagen mit Rotkreuzaufschrift bahnt sich mühsam den Weg durch Krater, Schuttberge und Menschen, und wir treten beiseite, um ihn vorbeizulassen. Aus dem Trümmerhaufen neben uns, noch von Mauerresten umgeben wie ein ausgekippter Karton, läutet lange und vergeblich ein Telefon. Jemand hat eine Nachricht an die Eckwand gepinselt: »Erna, Frieder, Moni – wir leben!«
    Ich habe mich extra feingemacht: das Haar vor dem Zubettgehen in Wickler gedreht, die Sonntagsschuhe geputzt, den langen Mantel angezogen, der so herausfordernd um die Waden schwingt. Ich hatte gehofft, Mutter eine Freude zu bereiten, hat sie doch immer beklagt, wie wenig ich mir aus meinem Äußeren mache. Im Zug hatte ich mir Worte ausgemalt: Wie hübsch du aussiehst, Fritzi, ich erkenne meine kleine Tochter kaum wieder ...!
    Pustekuchen, würde Onkel Ypsilon sagen. Fünf Minuten nach meiner Ankunft lässt sich nicht mehr feststellen, welches die größere Dummheit war – Locken, Mantel, Schuhe oder die Erwartung, dass Mutter stolz auf mich ist. In meiner aufgebauschten Haarpracht fangen sich Ascheblättchen und kleine Partikel von etwas, worüber man lieber nicht nachsinnt, die guten Schuhe stoßen sich Schrammen an Scherben und Geröll, und, meine Güte, waren die Sommer in Berlin immer schon so heiß? Unter dem Mantel klebt mir das Kleid am Leib und flüchtet alles Blut hinauf in den Kopf. Ich rede mir ein, dass die Hitze schuld ist und nicht die Enttäuschung über meine Mutter. Dass sie nicht froh ist, mich zu sehen, war zu erwarten, aber muss sie es so offen zeigen?
    Vielleicht hat ihr jemand erzählt, was passiert ist.
    Doch wer? Es gibt Geschichten, bei denen die Frage, wer sie erzählt, entscheidender sein kann als die, ob überhaupt jemand davon erfährt.
    Vielleicht hat Mutters Schweigen aber gar nichts mit mir zu tun. Die anderen Fußgänger reden schließlich auch nicht! Ich höre Schritte vor und hinter mir, schleppend, schlurfend oderungeduldig, und das trockene Rascheln zerfetzten Verdunkelungspapiers in leeren Fensterhöhlen. Ein Konzert rhythmischen Hämmerns und Klopfens liegt über der Stadt: kling-kling, tock-tock, kling-kling . Unterkünfte werden emsig wieder brauchbar gemacht, die Betten aus zerstörten Schlafzimmern in vielleicht noch vorhandene Küchen, Flure und Badezimmer geschleppt – Hauptsache, ein Dach über dem Kopf.
    Links und rechts von uns ist alles, wirklich alles dahin. Als sei ein Windstoß durch eine Kartenhausreihe gefegt: Mauersteine, Dachziegel, Fensterrahmen, zerbrochen, zermahlen und mit allem verbrannt, was die Charlottenburger vor Kurzem noch »zu Hause« nannten. Nicht reden ... den Atem flach halten ... viele haben Tücher vors Gesicht gebunden, um sich vor der gelblichen Dunstglocke zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher