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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund
Autoren: Thomas Pletzinger
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jetzt trifft er einen schwierigen Floater über Yassin Idbihi. Noch 44 Sekunden. 64:65.
    Bamberg liegt nur mit einem Punkt hinten und will nicht foulen. Jetzt folgt der entscheidende Angriff des Spiels. Fast verliert Schaffartzik den Ball gegen Anton Gavels harte Verteidigung, aber er bringt ihn nach vorne. Bamberg macht dicht, Berlin bekommt keinen Wurf. Die Uhr tickt. Die Pässe der Berliner wirken unsicher, der Druck ist immens. Drei Sekunden vor Ablauf der Shot Clock wird Sven Schultze gefoult. Ausgerechnet Sven Schultze. Die Halle findet: Fehlentscheidung. Die Halle brennt. Sven geht an die Linie und trifft beide Freiwürfe, Laserpointer im Gesicht und irrsinniges Gebrüll in den Ohren. 64:67 und noch 23 Sekunden. Auszeit. Bamberg braucht einen schnellen Zweier oder besser noch einen Dreier, Goldsberry bringt den Ball. »Kein Dreier«, brüllt Konsti an der Seitenlinie. Goldsberry findet Šuput, und der trifft über Schultze, mit Brett, zum 66:67.
    Auszeit.
    Noch zwölf Sekunden, und Bamberg muss in Ballbesitz kommen, wenn sie gewinnen wollen. Gavel foult und Heiko geht an die Linie.
    00:09 Heiko Schaffartzik zum 66:69.
    00:05 Brian Roberts zum 68:69.
    00:03 Julius Jenkins zum 68:71.
    Der Boden vor der Berliner Bank ist klebrig vor Bier und Glitter. Femerling reckt den Pokal in die Luft. Sven Schultze sucht und findet seine Eltern. Marco Baldi küsst Coach Katzurin auf die Stirn. Schaffartzik sitzt auf Yassins Schultern und schneidet das Netz vom Ring, Jenkins wird zum MVP der Finalserie gewählt. Yassin trägt Mithat durch die Halle. Miro vergisst den Schmerz in seinem Bein und tritt versehentlich auf Professor Mikas Brille. Tommy Thorwarth weint. Tadija Dragi ć evi ć läuft mit erhobenem Zeigefinger durch die Halle, er küsst Predrag Šuput dreimal auf die Wangen, links, rechts, links. Das Pfeifkonzert endet, die Halle leert sich. Die Lichter gehen an. Oben auf der Tribüne kommt es zu einer kleineren Schubserei. Auf dem Siegerfoto stehe ich ganz hinten links, hinter Staiger und Bryce, und reibe mir Champagner aus den Augenwinkeln. Champagner brennt. Ich bin nur zu sehen, wenn man es weiß.
    In der Gästekabine packt Bobby eine Zigarre aus. Irgendwer stellt zwei Kisten Bier in die Mitte, die Journalisten dürfen mittrinken. »Das war’s!«, sagt Femerling und zündet sich eine Zigarette an. Hinter der Halle stehen die Siebenhundert gelben Fans Spalier zum Bus. Wir steigen ein und wieder aus. Auf dem Parkplatz hat Alba ein Zelt mit Freibier und Bockwurst aufgebaut. Wir trinken und singen und sehen die Bamberger im Parkplatzlicht nach Hause schleichen. Tommy verschenkt sämtliche Trikots und Socken und Handtücher an die Fans. Paul Neumann kommt vorbei, wir trinken ein Versöhnungsbier. Gegen Mitternacht steigen wir in den Bus, aber der Bus wird blockiert und wir steigen wieder aus. »Gib mir ein A« – »A!« – »Gib mir ein L« – »L!« – »Gib mir ein B« – »B« – »Gib mir ein A« – »Was heißt das?«
    Wir steigen wieder ein, und als wir in Berlin ankommen, ist die Nacht noch nicht vorbei. Wir können uns an die Tankstellen und Rastplätze nicht recht erinnern. Am nächsten Tag tragen wir Sonnenbrillen. Luka Pavi ć evi ć schickt eine Glückwunschnachricht. In der Woche nach dem Titelgewinn unterschreibt Muli Katzurin einen Zweijahresvertrag, dann Jenkins, dann McElroy. Die Mannschaft bleibt zusammen. In der nächsten Saison verlieren wir erst im Halbfinale um den Euroleague-Titel knapp gegen ZSKA Moskau. Wir gewinnen dreimal hintereinander die Deutsche Meisterschaft, aber jedes Jahr verlieren wir das Auswärtsspiel in Hagen.
    Aber so war es nicht.
    Der Kapitän bekam seine Medaille zuerst. Die Reihenfolge der Siegerehrung verlief strikt nach Protokoll, und als Sven Schultze an der Reihe war, verfiel ein Teil der Halle wieder in ihr Schultze-raus-Schultze-raus-Gebrüll. Diesmal sah man Sven an, dass ihm diese Rufe zusetzten. Kurz wehrte er sich, kurz hob er die Arme, als wolle er die Wut des Publikums auf sich nehmen. Aber dann besann er sich. Sven Schultze senkte den Kopf und ließ sich die Medaille um den Hals hängen, es sah so aus, als würde er aufgeben. Und dann hob er den Kopf und blickte ins Publikum. Vielleicht war es gut, dass man in der dunklen Halle Svens Gesicht nicht erkennen konnte.
    Einer nach dem anderen erhielten die Spieler ihre Medaillen, einer nach dem anderen senkte den Kopf. Ich erinnere mich an den bitteren Geschmack der Unumkehrbarkeit. Für ein paar Minuten dachte
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