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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund
Autoren: Thomas Pletzinger
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Prominenten-Bilderwand fotografieren. Alice Cooper reist ab, die Schiedsrichter reisen an, die Fernsehmoderatoren. Auf dem Tagesplan steht eine Mittagspause, aber niemand scheint schlafen zu können. Ich zumindest nicht. Also Sauna. Ich überlege kurz, ob ein Saunabesuch heute Mittag die Gewinnchancen heute Abend erhöht, und finde: ja.
    Noch sechs Stunden. Drei Saunagänge ohne richtige Pause. Eine dicke Dame macht ein Nickerchen auf der römischen Liege. Nach Durchgang drei wacht sie auf. »Was Sie da machen«, gähnt sie, eine Hand pietätvoll vor den Mund gehalten, »ist bestimmt anstrengend. Entspannen Sie doch mal.«

    Noch fünf Stunden. Ein doppelter Espresso auf leeren Magen macht das Warten nicht angenehmer, denn die Zeit vergeht noch schneller. Bryce Taylor geht spazieren, Jenkins sitzt in der Lobby, den Laptop auf den Oberschenkeln. Sven bekommt Besuch von seinen Eltern und seiner Frau. Seine Kinder toben durch die Lobby. Die meisten Familien sind mitgekommen: Taylor Rochesties Vater trägt bereits jetzt das Trikot seines Sohnes über dem Hemd. Tadijas Zwillingsbruder und Tadija sprechen ernst miteinander. Familie Schultze redet heute Morgen nicht über die Pfiffe und Schreie in der Halle. Konstis Vater und seine Frau sind mit den Fanbussen unterwegs nach Bamberg. Bobby steht allein vor dem Hotel und raucht eine Zigarette nach der anderen. Ich stelle mich dazu. Die Zeit und wir.
    Vier Stunden vor der Entscheidung sitzt Frank Buschmann in der Lobby und wir sprechen über seine Arbeit als Basketballbotschafter und – enthusiast. Coach Katzurin kommt vorbei. Buschmann sieht kurz so aus, als habe er ein schlechtes Gewissen. Man sieht, dass seine Kritik am Coach in seinem Kopf herumspukt. Sie stellen sich einander vor, aber der Coach will heute nicht reden ( Same questions, same answers ). Er nickt höflich und verschwindet.
    Drei Stunden noch, Snacks. Professor Mika ist heute zum ersten Mal seit der Entlassung von Luka Pavi ć evi ć wieder bei einem Auswärtsspiel dabei. Die Saison war lang, seit 248 Seiten hat er seine Brille nicht mehr fallen lassen. Aber jetzt. Das Alba-Präsidium trinkt Kaffee. Vizepräsident Peter Schließer trägt heute gelbe Socken und eine senfgelbe Hose. Er sitzt zwischen den Spielern und erzählt von vergangenen Meisterschaften, aber die Mannschaft will heute über die Zukunft reden.
    Aus den Fugen geratendes Zeitempfinden. Das Hin und Her zwischen Zuversicht und Pessimismus. Baldi stellt sich zu uns, zum immer noch rauchenden Bobby und mir. »It’s my turn now«, sagt Bobby auf einmal, als hätte er sich das beim Rauchen überlegt. »Ich warte seit Jahren auf eine Meisterschaft. Jetzt hole ich sie mir.«
    Zwei Stunden vor der Entscheidung wird das Schweigen lauter. Einer nach dem anderen überqueren die Spieler die Straße vor dem Hotel und steigen in den Bus. Micha verlädt die Taschen und Koffer, denn nach dem Spiel werden wir direkt zurück nach Berlin fahren. Ein Trauerzug,denke ich, und weil ich schon seit Stunden an beide Alternativen denken muss: ein Triumphbus.
    Vor dem Bus umarmen sich Baldi und der Coach.
    »Let’s finish this, okay?«
    »Bringen wir es zu Ende.«
    Jenkins’ Kopfhörer und Femerlings Blässe. Bryce’ kurz geschlossene Augen und Svens Blick auf seine Stadt. Ein beflaggter Fiat Panda, rot und grau geschmückt, hält neben dem Bus und hupt. Der Fahrer trägt blinkende Teufelshörner. Ich denke an Paul Neumann, ich denke an die Hitze, den Rauch und den Lärm. Das Spiel ist ein Experiment: Wir wissen, was uns erwartet. Wir kennen alle Voraussetzungen und Parameter. Uns fehlt allein das Resultat.
    Die Spieler haben sich in ihre Welt und ihre Vorstellungen der nächsten Stunden zurückgezogen. Femerling. Bryce. Rochestie. Tadija. Miro. Schultze. Staiger. Derrick Allen. McElroy. Yassin. Heiko. Ich stelle mir vor, wer von ihnen spielen wird und wie. Bei allen scheint mir ein sensationelles Spiel denkbar. Tadija trifft, Heiko verteidigt, Bryce fliegt.
    Und dann stelle ich mir das komplette Versagen vor, ein neuerliches 52:103.
    Ich zwinge mich zurück zur Zuversicht, denn in diesen Playoffs hat die Mannschaft trotz allem am Ende doch gewonnen. Also auch heute.
    Ich bin mir sicher. Ich bin mir unsicher.
    Meine Geschichte sieht das so vor, denke ich, ein Sieg wäre das richtige Ende für meine Mannschaft. Ich denke tatsächlich »meine Mannschaft«. Unser Finale.
    In den Köpfen der Spieler: Gegner und Sequenzen, Würfe und Bewegungsabläufe. Konfetti. Sie
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