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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund
Autoren: Thomas Pletzinger
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hören ihre Musik. Sie denken an das Bier nach dem Sieg und wie Champagner in den Augen brennt. Sie denken an den Geschmack der Tränen, wenn sie verlieren. Als Micha den Motor anlässt, erinnere ich mich an das Gefühl, das mich als Spieler bei wichtigen Spielen überfallen hat: ein kaltes Gemisch aus Angst und kompletter Konzentration, die Schnelligkeit sämtlicher Augenblicke vor dem Match und ihre gleichzeitige monumentale Langsamkeit. Ein Flackern der Zeit. Als würde man einen Film sehen und dabei jedesEinzelbild wahrnehmen, nichts davor, nichts danach. Jede Sekunde vierundzwanzig Einzelbilder für sich. Ich hatte darüber den Film aus den Augen verloren. Die ganze Geschichte und ihre Zusammenhänge. Das Spiel.
    Ich beobachte die Jungs und höre das Hupen des Teufels im Fiat. Der Bus gleitet durch die Stadt, es ist ein klarer Sommertag. Bamberg schüttelt wieder die Fäuste, aber heute achten wir nicht darauf. »Konzentrieren wir uns«, hat Coach Katzurin heute Morgen gesagt. »Wir wollen alles ignorieren, was außen ist. Die Halle. Die Zuschauer. Die Referees. Die Pfiffe der Referees. Wir wollen zuversichtlich sein.« Coach Katzurin meint eine gedankliche, körperliche und emotionale Zuversicht. Das ganz einfache Wissen, dass man gut spielen wird. Das, was die Basketballer Momentum nennen. Beim letzten Spiel in Berlin fiel das leicht.
    »Let’s go, guys!«, sagt der Coach, als der Bus hinter der Halle hält. Vor den Fenstern warten die ersten gelben Fans. »Welcome to Bamberg!«, sagt der Coach, aber als die Türen sich öffnen, riecht es nach Brathähnchen.
    Die Halle ist voll, und wieder sind alle da. Alle. Siebenhundert gelbe Fans, die Familien der Spieler, die Journalisten, die Agenten. Rudi Schultze trägt ein Polohemd von Svens altem Team Snaidero Udine, farblich neutral und trotzdem solidarisch mit seinem Sohn. Ein leichter Nebel liegt in der Halle, als würde sich heute Großes ereignen. Auf den Presseplätzen hat man die Berliner Journalisten aufgereiht. Man sieht ihnen ihre Verwunderung an. Eine Stunde vor der Entscheidung tippen sie ihre Texte für einen Sieg, Texte für die Niederlage. Befürchtung und Begeisterung oszillieren. Niemand hat damit gerechnet, am Ende dieser Saison vielleicht eine Meisterschaft erzählen zu können, möglicherweise ein Märchen.
    Ich laufe einmal um die Halle. Berliner und Bamberger stehen getrennt voneinander und starren sich an. Ich rechne mit Paul Neumann und einer neuerlichen Tirade, ständig sehe ich mich um. Fünfzig Minuten vor der Entscheidung gehe ich zum letzten Mal in die Kabine.

    Wie nervös ich bin, merke ich daran, dass ich mein Notizbuch im Bus vergesse. Also fotografiere ich Patrick Femerlings Trikot #13 über der Rückenlehne eines Stuhls. McElroy, betend, das linke Knie auf einem Badeschlappen. Den verschwitzten Physio. Eine Packung Zigaretten auf dem Kabinenboden (Marlboro Medium). Niemand nimmt Notiz, ich bin unsichtbar geworden.
    Der Coach betritt die Kabine und verzichtet auf die Motivationsrede, weil zu Bamberg alles gesagt ist. »Come«, sagt er und hebt die Faust. Man hört das Surren der Lüftung und die Kraft der Halle. Die Spieler stehen auf und umarmen sich. Ein ernst gemeintes Huddle am Ende eines langen, eines gemeinsamen Wegs.
    One
         two
              three
                   Alba!

    Das letzte Spiel meiner Saison im Profibasketball ist eine Serie aus Momentaufnahmen, die Minuten und Sekunden werden verschwinden. Ich werde später nicht mehr wissen, wer die Nationalhymne gesungen hat. Ich mache ein Bild vom Einlauf der Bamberger, aber es zeigt nur das dunkelrote Leuchten der Halle. Das erste Viertel wird laut Statistikblatt fast ausgeglichen verlaufen sein, 16:13, aber ich habe keinen einzigen Wurf in Erinnerung. Lottermoser, Schmidt und Barth sind die Schiedsrichter, und ich erinnere mich an keinen fragwürdigen Pfiff.
    Im zweiten Viertel zieht erst Bamberg davon, 28:20, dann ziehen wir nach und übernehmen, 29:30. Die Führung wechselt hin und her. Coach Katzurins Ansage scheint geholfen zu haben. Alba beschäftigt sich nicht mit dem Schiedsrichter, nicht mit Goldsberrys Strategie und nicht mit dem Schultze-Geschrei. An Julius erinnere ich mich, weil er heute von überall trifft, weil er uns im Spiel und in der Erinnerung hält.
    Ein weiteres klares Bild, als Jenkins den Ball im Rückfeld klaut und direkt zu Schaffartzik passt. Heiko macht das Spiel schneller, der Ball gelangt in den Rücken der
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