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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat
Autoren: Joseph von Westphalen
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Die Zugfahrt

    Der Zug fuhr in vierzig Minuten, und Viktor stand noch unter der Dusche. Am späten Vormittag brauchte das Taxi zum Bahnhof eine Viertelstunde – wenn alles glatt ging. Wenn es nicht glatt ging, wenn der Verkehr kein rasches Fahren erlaubte – daran wollte Viktor lieber nicht denken. Man konnte nicht immer an das Schlimmste denken.
    Viktor dachte nie an das Schlimmste. Er war nicht Ingenieur in einem Atomkraftwerk. Die müssen an das Schlimmste denken. Oder Flugzeugkonstrukteure. Nicht Viktor. Viktor lebte, solange er denken konnte, mit dem Gefühl: Es wird schon gutgehen. Und es ging gut. Kein Unglück bisher. Viktor war zweiundvierzig.
    Die Frage war, ob es nicht hätte besser gehen können. Zweifellos. Viktor konnte sich manchmal eine glücklichere Ehe vorstellen. Manchmal aber erschien sie ihm auch ideal. Und er könnte erfolgreicher sein. Er hatte einen Beruf, in dem ein und dieselbe Leistung völlig verschieden honoriert wird. Viktor war Schriftsteller. Ein Jahr Arbeit konnte genügend Geld und genügend Ruhm, oder auch genügend Ruhm und zu wenig Geld, oder auch genügend Geld und zu wenig Ruhm, oder auch zu wenig Geld und zu wenig Ruhm einbringen.
    Heute abend würde Viktor in Hannover lesen. Die Veranstalter rechneten mit hundertfünfzig Leuten. Es gab Autoren, zu deren Lesungen kamen zweitausend. Bei anderen fanden sich nur zwei Dutzend ein. Von wieder anderen wollte kein Mensch etwas wissen. Insofern ging es Viktor gut. Er konnte vom Schreiben leben, und zwar nicht schlecht.
    Die Tür zum Bad öffnete sich. »Es ist kurz vor halb zehn, um zehn geht dein Zug. Du kriegst ihn nie mehr!« Das war Ellen, Viktors Frau.
    »Ich kriege ihn!« rief Viktor. Es würde diesmal besonders knapp werden, aber er würde den Zug kriegen. Er mußte ihn kriegen. Es gab von Zürich aus keinen späteren Zug, mit dem man rechtzeitig in Hannover war. Ellen konnte sich nicht vorstellen, daß er zum Abtrocknen, Anziehen und Zusammenpakken nur wenige Minuten brauchte. Auch wenn er es schon Hunderte Male bewiesen hatte. Kein Salben, kein Föhnen, kein zögerndes Wählen, welches Hemd und welche Hose. Das war ihr als Frau unbegreiflich.
    Rasieren allerdings war heute nicht mehr drin. Und die Fingernägel würde sich Viktor auch nicht mehr feilen können. Schade. Er hatte gern sorgfältig gefeilte Nägel, wenn er unterwegs war. Es gab Frauen, die einem auf die Hände schauten. Während der Bahnfahrt hätte er genug Zeit, aber im Zug konnte man sich nicht die Fingernägel feilen. Diese Souveränität besaß er nicht. Wobei man sich fragen konnte, ob das noch souverän war oder schon ekelhaft. Die Schuhe sahen stumpf aus, er hätte sie gern eingecremt und poliert. Auch daran war nicht mehr zu denken.
    Susanne war schuld, daß er jetzt so elend spät dran war. Er hätte ihren Brief nicht öffnen sollen. Nein: er war selbst schuld! Man sollte keine Post öffnen, wenn man in Eile ist.
    Ellen erschien kurz als Schatten hinter der Glastür. »Also, ICH fahr dich nicht!« rief sie unmißverständlich. Darum würde Viktor sie auch nicht bitten. Ihre Drohung war natürlich ein Angebot, ihn trotz seiner Unbelehrbarkeit, trotz seines selbstverschuldeten Spätdranseins zum Bahnhof zu fahren. Das würde ihr Viktor nie zumuten. Sie hatte besseres zu tun. Sie müßte längst in ihrem Büro sein.
    »Vielleicht könntest du doch ein Taxi kommen lassen«, rief Viktor, stellte die Dusche aus und griff zum Handtuch. Ellen hatte seine Bitte nicht gehört, und Viktor fiel ein, daß sie einmal gesagt hatte, es sei keine Zumutung für sie, sie fahre ihn gern zum Bahnhof, da könne man wenigstens noch ein bißchen miteinander reden. Viktor fand diese Bemerkung damals etwas sehr pathetisch. Miteinander reden – das klang ungut nach Aussprache. Dann aber war ihm eingefallen, daß sie das klassische vielbeschäftigte Paar waren, das wenig Zeit füreinander hat. Zwanzig Minuten zusammen im Auto würden sie wieder etwas zusammenbringen. Ellen hatte wieder einmal recht. Sie hatte ihn dann gefahren – und es war tatsächlich angenehm gewesen. Viktor hatte sich widerspruchslos die Schulprobleme angehört, die der Sohn von Ellens Schwester hatte, und mit einigen Nachfragen seine Aufmerksamkeit bewiesen. »Was ist los?« hatte Ellen gefragt. »Ich will nie wieder hören, daß ich mich nicht für deine Familie interessiere«, war Viktors Antwort gewesen.
    In den letzten Tagen hatten sie, wie so oft, »aneinander vorbeigelebt«, wie Ellen es mit ihrer zum
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