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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat
Autoren: Joseph von Westphalen
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sofort einsteckte. Wenn Susannes Brief heute morgen nicht gekommen wäre oder wenn er ihn nicht aufgemacht hätte, wäre es nichts geworden mit seinem Plan, sich mit ihr in Köln zu treffen. Einen Augenblick lang erschien es ihm als erholsam, sie nicht schon wieder zu sehen. Das Alleinsein zu genießen. Mit einem späteren Zug von Dresden nach Köln zu fahren. In Köln um sechs aufstehen zu können und nicht bis halb elf mit Susanne im Bett liegen und bis zwölf frühstücken zu müssen. Dann hatte er Susannes Blick vor Augen. Keine Frau hatte ihn je so begehrlich angeschaut wie Susanne. Wenn Kernphysikerinnen ordinär werden. Irgendwie ein Triumph. Ein Sieg über die Naturwissenschaft. So etwas hatte Viktor noch nie gesehen. Eine Mischung aus emanzipiert und hingabebereit. Dieser Blick war es, der Viktor zu einer bis dahin ungeahnten Leidenschaft befähigte. Er sah Susanne vor sich, zu allem bereit, warf den Brief an sie in den Kasten – und ärgerte sich, daß er vergessen hatte, den Wetterberichtsatz auf den Rücken des Kuverts zu schreiben: »Fest im Griff!«
    Im Zug suchte Viktor mit dem Fahrschein in der Hand nach seinem reservierten Platz, den er in einem Abteil entdeckte, in dem gleich drei Manager-Prototypen saßen. Ein graumelierter Sechzigjähriger und zwei weitere zwischen dreißig und vierzig. Das war zu viel. Einer der Jüngeren hatte einen Laptop auf dem Schoß, auf dessen Bildschirm eine Tortengrafik zu sehen war. Die beiden Jüngeren deuteten auf die Grafik und nickten wichtig. Der Graumelierte blätterte in einem Ordner. Einer der Jüngeren griff zu einem Handy und begann zu telefonieren.
    Viktor betrachtete die drei mit begeistertem Ekel. Es fiel ihm auf, daß eine der gerahmten Reklamen über den Sitzen ein fast identisches Tableau zeigte: drei verschiedene Manager im Zugabteil mit Laptop und Ordner. Tortengrafiken auf dem Laptopschirm sollten eine Versicherungsgesellschaft vertrauenserwekkend erscheinen lassen. Eine wunderbare Doublette, ein Beweis, daß die Werbung der Wirklichkeit entspricht und die Wirklichkeit der Werbung. Viktor öffnete die Glasschiebetür. Einer der Jüngeren räumte beleidigt Papiere vom freien Sitz. Viktor winkte ab und deutete auf das Reklamebild. »Sind Sie das?«
    Die drei Herren verstanden nicht.
    Viktor schob die Tür zu, atmete aus wie einer, der dem Unheil entronnen ist, ging weiter in die zweite Klasse und verharrte dort an einem leeren Platz. Daneben eine übermäßig korpulente Blondine, die ihm freundlich zunickte, ohne daß er gefragt hatte. Viktor war von der Vorstellung der erdrückenden Platznachbarschaft nicht angetan, bemerkte Schweißflecken unter den Ärmeln der Seidenbluse, nickte höflich zurück und ging hastig dankend weiter.
    Endlich ein leerer Sitz vis-à-vis einer jungen Frau, die ihm sympathisch war. Viktor deutete mit Fragemiene auf den Platz.
    »Reserviert, aber bis jetzt ist niemand gekommen«, sagte sie. Gepflegte schweizerische Klangfarbe. Kein krachiges Schweizerdeutsch.
    Viktor riskierte es. Wenn auch das Vertriebenwerden von den rechtmäßigen Platzreservierthabern zu den letzten großen Demütigungen der Wohlstandsgesellschaft gehörte. Diese Sattheit der Inhaber. Diese fetten Käfer mit ihren fetten Käferkoffern. Ihnen Platz zu machen, war vor allem dann unerträglich, wenn man mehrere Gepäckstücke bei sich hatte, mit denen man sich schleppend, ziehend, schiebend, wuchtend, ächzend, schwitzend trollen mußte. Ein Krieg der Käfer. Mit einer handlichen Reisetasche konnte man sich würdig entfernen. Das wäre einen Essay wert, dachte Viktor: Die Reservierung als zentrale Metapher des neuzeitlichen Lebens. Nichts geht mehr ohne Anmeldung. Kein Kauf an der Käsetheke, ohne vorher eine Platznummer gezogen zu haben. Gewaltige Vorteile. Kein Gedränge mehr beim Einkaufen. Andererseits dieser Kulturverlust: keine Wartezimmer voller schniefender, hustender Menschen mit geschwollenen Gesichtern. Einmal im Jahr ging Viktor zum Zahnarzt. Früher war ein halber Tag mit Warten weg gewesen, aber dafür hatte er einen Stapel Regenbogenpresse durchgearbeitet und wußte, was der Hochadel trieb. Das war vorbei. Heute betrug die Wartezeit drei Minuten, das reichte nicht einmal für eine Kurzinformation über neue Paarbildungen im Stamm der Oberen Zehntausend. Drei Viertel der Prominenten war Viktor kein Begriff mehr, weil dieser Wartezimmerüberblick fehlte. Und überhaupt: Die Zuweisung von Terminen und Plätzen, Raum und Zeit. Eine Frechheit, ein
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