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Der Liebessalat

Der Liebessalat

Titel: Der Liebessalat
Autoren: Joseph von Westphalen
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er. Mit dreißig hatte er sich noch einmal an einem Gedicht versucht. Vor zwölf Jahren. Eine späte Jugendsünde. Als er sich in Ira verliebt hatte. Lyrik war nichts für ihn. Er war prosaisch durch und durch, und das aus Überzeugung. Je älter er wurde, desto weniger konnte er mit Gedichten anfangen. Der hohe lyrische Ton war ihm manchmal richtig verhaßt – je höher, desto verhaßter. Beate, die Dattel, schwärmte für Rilke. Als Viktor noch für Beate schwärmte, konnte er Rilke ertragen. Als die heiße Sehnsucht nach ihr sich in eine warme Neigung zu verwandeln begann, wurde ihm Rilke zu süßlich. Erstexehefrau Ella hatte Ingeborg Bachmann für das lyrische Nonplusultra gehalten.
    Was ist der Unterschied zwischen Lyrik und Sozialismus? fiel Viktor ein, während er sich mit Bettina in Richtung Speisewagen vorarbeitete. Das wäre doch mal eine hübsche Scherzfrage. Antwort: kein Unterschied, für beides begeistert man sich nur in jungen Jahren. Dürfte auf Widerstand stoßen, die These. Gut, wenn man mit Schriftstellerkollegen zanken wollte. Phantastische Möglichkeit zur Poetenbeleidigung. Schlagzeilen im Feuilleton. Viktor Goldmann behauptet: Lyrik macht mich krank. Er durfte die These nicht vergessen. Viktor drehte sich zu der hinter ihm durch den Gang des Zuges gehenden Bettina um: »Könnten Sie sich bitte die Worte Lyrik und Sozialismus bis zum Speisewagen merken?« Sie nickte: »Könntest du mich bitte duzen, das ‘Sie’ macht mich total krank.« Kleine Pause. »Freunde nennen mich Tini.«
    Viktor war stolz. Sie empfand ihn offenbar nicht als einen alten Sack. Mit der Kurzform ihres Namens aber hatte er Schwierigkeiten. Tini. »Warum nicht ‘Tina’«, sagte er, »ich heiße Viktor.«
    »Was hast du gegen ‘Tini’, Viktor?« sagte sie.
    Viktor hob die Schultern. Er wollte nicht sagen, daß ihm der Name Tini zu kindlich war. Er konnte sich nicht vorstellen, hinter einer Frau her zu sein, die Tini hieß. Er wäre sich vorgekommen wie ein Kinderschänder. Mit Nasenring-Tina im Bett – durchaus denkbar. Mit Tini – undenkbar. Am besten mit Bettina.
    Sie gingen am Zugtelefon vorbei. Ein Mann schrie in den Hörer: »Wir sind genau zwischen Basel und Freiburg… ja, Schatz… in zwei Stunden bin ich da, Schatz…«
    Viktor zeigte auf den Mann und fragte Bettina: »Seine Frau oder seine heimliche Geliebte?«
    Bettina riet: »Heimliche Geliebte.«
    Der Mann am Zugtelefon war ein Phänomen. Er ließ sich von den beiden Betrachtern, die unmittelbar neben ihm stehengeblieben waren, nicht beirren. »Ist Annemarie schon aus der Schule gekommen?« kreischte er ungeniert… »Grüß sie von Papa…«
    Bettina lachte: »Sakra, daneben! Klingt nach Ehe. Wahrscheinlich jedenfalls. Oder hat er Kinder mit der heimlichen Geliebten?«
    Wenig später kamen sie an dem Abteil mit den drei Managern vorbei und blieben davor stehen. Viktor deutete hinein und war glücklich, daß Bettina sofort die Komik erkannte und amüsiert den Kopf schüttelte. Darauf kam es an: Schwachsinn als Schwachsinn erkennen. Das war die Basis. Einer der jüngeren telefonierte wieder mit dem Handy. Viktor zog die Schiebetür auf und fragte den telefonierenden Parade-Manager: »Entschuldigung, eine Frage.«
    »Bitte!«, sagte der junge Parade-Manager, der auf Draht genug war, um zu telefonieren und gleichzeitig Fragen zu beantworten.
    »Telefonieren Sie mit ihrer Frau oder ihrer heimlichen Geliebten?« fragte Viktor und schloß die gläserne Schiebetür. Bettina boxte Viktor in den Rücken: »Das war Klasse!« Er hatte gehofft, daß ihr seine Nummer gefiel. Nach dem kumpelhaften Stoß glaubte er, sie kurz mit beiden Händen an beiden Schultern anfassen zu dürfen. »Deine Nase, dein Nasenring!« Er frohlockte und spürte: Der Zeitpunkt war nicht fern, da würde er sie an den Schultern an sich heranziehen und ihr einen flüchtigen Freudenkuß geben können. Sie waren sich schon vertraut genug. Es wäre keine Verfehlung. Sie hätte nichts dagegen.
    Im Speisewagen hatte das ebenso gütige wie ironische Schicksal einen ganzen Tisch für den Reservierungsgegner Viktor reserviert. Bettina wählte eine Cola, Viktor vermied strikt Alkohol vor Veranstaltungen, aber jetzt mußte ein Wein her. Bettina notierte auf eine Serviette: »Lyrik und Sozialismus – zur Erinnerung, deine Tina«. Er hatte es tatsächlich schon wieder vergessen. Er küßte die Serviette und steckte sie ein. Deine Tina. Nicht unbeholfen die Schrift. Angenehm altmodisch. Obwohl Viktor
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