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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund
Autoren: Thomas Pletzinger
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Verteidigung, er landet bei Bryce Taylor, der die Lücke sieht und von der rechten Seite über die Baseline zum Korb zieht. Šuput ist zur Stelle, aber Bryce hat bereits abgehoben. Šuput hebt die Arme, aber Bryce fliegt einfach über ihn hinweg und dunkt den Ball mit rechts. Er baumelt den Bruchteil einer Sekunde über Šuput, dann lässt er los, landet, starrt auf den am Boden Liegenden nieder. Die Berliner Journalisten und ich springen auf, die Hände fassungslos am Kopf. »Hoffentlich hat das jemand fotografiert«, sagt mein Nebenmann. Hoffentlich. Es sieht kurz so aus, als würden die beiden aneinandergeraten, der Schmäher und der Geschmähte, aber Bryce dreht sich um und läuft zurück, die gelbe Wand aus Berlinern vor sich. Die Halle stöhnt, sogar ein paar Bamberger müssen klatschen. 37:40. Auszeit (nicht zu früh freuen).
    Bryce ist aufgekratzt und will mehr, aber als er Casey Jacobsen den Ball klauen will, knickt er um und muss ausgewechselt werden. Das Spiel bleibt eng und wird immer enger, die Zeit läuft ab.
    Im vierten Viertel kommt Sven für Derrick Allen und gibt dem Affen Zucker, er schenkt der Halle drei harte Playoff-Fouls. Auf der Tribünehinter den Presseplätzen sehe ich das Trommelmädchen von letzter Woche, das sich vor Wut fast verschluckt. Miro verletzt sich am Knie und wird hinterher sagen, dass ihm noch nie etwas so wehgetan hätte wie das heute.
    Anderthalb Minuten sind noch zu spielen, als Bryce Taylor einen aus der Not geborenen Dreier versenkt und wir mit zwei Punkten in Führung gehen. Das Spiel ist fast vorbei, die Serie ist fast gespielt, die Drei-Mal-fünf-Spiele-Playoffs. Die Saison wird gleich zu Ende sein. Es steht zwei zu zwei, 62:64 für uns, 1:22 zu spielen.
    Wir stellen uns vor, wie es wäre. Es fühlt sich so an, als wäre es möglich. Es fühlt sich so an, als könnten wir tatsächlich zurückkommen nach all den Niederlagen, Artikeln, Beschwerden, Konsequenzen, dem Gerede, den Reisen, den Wartezeiten, Hotelzimmern, gehobenen Gewichten, geschundenen Knochen, geschluckten Tabletten, Passkontrollen, Autobahntoiletten. Gentlemen. Wir standen am Abgrund, jetzt scheint der Gipfel erreichbar.
    (nicht zu früh freuen)
    (nicht zu früh freuen)
    (nicht zu früh freuen)
    Und es bleibt nur ein Gefühl. Im nächsten Angriff kann sich Goldsberry clever von Rochestie befreien. Das ganze Spiel hat er die gleichen Laufwege genommen, Rochestie kennt sie und spekuliert. Goldsberry sieht das und improvisiert. Er wirft der Berliner Bank einen Dreier ins Gesicht. 65:64.
    Und Berlin punktet nicht.
    Und Kyle Hines greift sich den Rebound.
    Und der Ball kommt wieder zu Goldsberry, und wieder funktioniert die defensive Rotation nicht. Goldsberry findet Brian Roberts und Roberts steht frei an der Dreierlinie. 68:64.
    Die letzte Auszeit.
    Als die Mannschaft wieder auf das Spielfeld kommt, ist die Saison vorbei. Zwei Unkonzentriertheiten genügen. Die Verzweiflungsdreier und Stop-the-Clock-Taktik reichen danach nicht. Goldsberrys Dreier läuft als Film in meinem Kopf ab, Rochestie spekuliert, Goldsberrytrifft, wieder und wieder. Und als Julius Jenkins an der Mittellinie die Uhr hinunterlaufen lässt, schwappt der Jubel auf das Spielfeld. Wenn Goldsberry nicht getroffen hätte, denke ich, wenn, dann, und die Zeit läuft ab.
    Ich stehe auf und klappe mein Notizbuch zu.
    Glitterkanonen.
    Bier für Bamberg. Ihre Feier beginnt. Die Saison ist vorbei.

3

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CHAMPAGNER IN DEN AUGEN

    BERLIN, 20. NOVEMBER 2011
    GOLDSBERRY TRIFFT NICHT. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich darüber nachgedacht, was geschehen wäre, wenn Taylor Rochestie 1:22 vor Schluss nicht versucht hätte, smarter als John Goldsberry zu sein. Wenn seine Hand stattdessen in Goldsberrys Gesicht ist, als der den wichtigsten Dreier des Spiels wirft, ganz dicht dran. Was wäre dann geschehen?
    Goldsberry trifft nicht. Bryce Taylor rebounded, und wir nehmen zwanzig Sekunden von der Uhr, ehe Jenkins beim Wurf aus der Mitteldistanz gefoult wird. Er trifft beide Freiwürfe. Oder sagen wir: Er trifft nur einen, dann ist das Spiel spannender. Es steht 62:65. Noch eine Minute.
    Bamberg wird nervös, denn noch nie in dieser Saison war es so knapp. Und ausgerechnet im fünften Spiel um die Deutsche Meisterschaft liegen sie zurück. Im nächsten Angriff will Berlin nur keinen Dreier zulassen, sie stehen dicht an ihren Gegenspielern und können fünfzehn Sekunden von der Uhr herunter verteidigen. Dann penetriert Goldsberry gegen Rochestie und
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