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Gentlemen, wir leben am Abgrund

Gentlemen, wir leben am Abgrund

Titel: Gentlemen, wir leben am Abgrund
Autoren: Thomas Pletzinger
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ich nicht an meine Geschichte, ich notierte nichts und fotografierte nichts. Wir ließen die Siegerehrung über uns ergehen, die Glitterkanonen und den Trockeneisnebel. Casey Jacobsen streckte die Trophäe in die Höhe, Karsten Tadda schnitt das Netz vom Ring und hängte es dem Kapitän um den Hals. Die Berliner verschwanden einer nach dem anderen in der Kabine. Ich sah noch zu, wie die Bamberger ihr Siegerfoto machten, als mir plötzlich jemand in den Nacken schlug, viel zu fest und hinterrücks, um sportlich gemeint zu sein. »Das«, sagte Paul Neumann, »ist für die verlotterte Gästekabine.«

    Stille ist ausdauernd. In der Kabine rasierten sich die Spieler die Playoffbärte ab. Niemand sprach. Rochestie starrte lange Zeit apathisch vor sich hin. Miro ließ sein Knie behandeln, Bobby befürchtete das Schlimmste. Femerling trat halbherzig gegen das Flipchart, aber nichts ging kaputt. Die Vibration eines stumm gestellten Telefons war zu hören.
    Vor der Tür warteten die Journalisten. Heiko Schaffartzik kam als Erster aus der Kabine und sagte ein paar Worte in die Mikrofone und Diktiergeräte. Coach Katzurin sprach mit ein paar Berliner Journalisten und schimpfte, denn die Feierlichkeiten hatten die Pressekonferenz verzögert. Also ging er. Dann kam Bryce, frisch rasiert und mit Eispaketen auf seinen Knochen. Dann die anderen, zuletzt Yassin. In der Halle wurde gesungen, also nahmen wir den Hinterausgang, denn draußen war die Stimmung gnädiger.

    Die Nacht war warm, die Nacht wurde lang. Als die Mannschaft die Saison durch den Hinterausgang verließ, standen die siebenhundert gelben Fans zwischen uns und dem Bus Spalier. Ein Spieler nach dem anderen humpelte die Stufen hinunter zum Parkplatz, jeder Spieler bekam seine Abschiedsration Liebe. »Soooo sieht ein Center aus!«, riefen sie für Femerling, »McEl McEl McEl McElroy!« für McElroy. Als Sven durch den Korridor aus Zuneigung ging, musste er lächeln. »Šuput! Šuput! Der Sven macht dich kaputt!«, sangen die siebenhundert. Ich ging dicht hinter ihm, irgendjemand hatte sich gemerkt, was ich hier tat, es gab einen Sprechchor für mich. »Thomas schreibt ein Buch, Thomas schreibt ein Buch, Thomas, Thomas, Thomas schreibt ein Buch!«
    Situation merken, notierte ich, das passiert Schriftstellern eher selten.
    Auf dem Parkplatz hatte Alba tatsächlich ein Zelt mit Bockwürsten und Freibier aufgebaut. Die Fans schienen nicht wütend zu sein, im Gegenteil. Sie waren stolz, dass ihre Mannschaft nach einer schwierigen Saison den scheinbar übermächtigen Meister bis an den Rand der Niederlage gebracht hatte. Sie schienen dankbar für eine erinnerungswürdige Saison. Die Mannschaft mischte sich unter ihre Fans, wir sahen gemeinsam den Bambergern zu, die singend Richtung Innenstadt zogen. Dann fingen die ersten Fans zu singen an. Bryce trank in schnellem Takt ein paar Pappbecher Bier. Sven Schultze schien erleichtert. Er sang in ein Megafon und dirigierte. Wir tanzten auf einem Teppich aus Pappbechern, wir sangen ihre Lieder. Tatsächlich verschenkte Tommy sämtliche Trikots und Socken und Handtücher aus dem Bus. Gegen Mitternacht stiegen wir ein, aber der Bus wurde blockiert und wir stiegen tatsächlich wieder aus. »Gib mir ein A« – »A!« – »Gib mir ein L« – »L!« – »Gib mir ein B« – »B« – »Gib mir ein A« – »A!« – »Was heißt das?«
    Meine Saison im Profibasketball endete, wie sie begann: mit einer Busfahrt. Wir hielten an mehreren Tankstellen und Rastplätzen, wir tranken billigen Tequila und teuren Whisky aus kreisenden Flaschen. Jemand kaufte Zigaretten. Rochestie wurde zum Lachen gezwungen, dann klappte er seinen Laptop auf und machte Musik. Er begann zu singen. Zum ersten Mal verwischten die Grenzen. Bobby saß oben im Bus und rauchte, ich wurde plötzlich so müde, dass ich kaum noch gerade gucken konnte. Es waren anstrengende Monate. Ich wollte darüber nachdenken, was ich vermissen würde, ich wollte mir ein paar Dinge notieren, ich wollte ein Fazit ziehen, also setzte ich mich nach unten zu den Coaches, schlief dann aber sofort ein.
    Als wir Berlin erreichten, ging die Sonne auf. Als ich wieder aufwachte, verließ der Bus gerade die Autobahn. Ich hatte seltsam verdreht geschlafen, meine Knochen knackten, mein Nacken schmerzte. Micha hatte einen anderen Weg als sonst genommen, er wollte die Siegessäule weiträumig umfahren. Es roch nach Rauch und Erbrochenem. Femerling war der ideale Kapitän. Er wachte über seine Männer.
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