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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal
Autoren: Jörg Blech
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dann gewaltige Mengen an Milch – obwohl es gerade erst ausgiebig getrunken hatte. Als Kleinkind ließ es sich Brei und Mus, Fleisch und Geflügel, Kartoffeln und Möhren schmecken und nahm nach dem Nachschlag noch einen Nachschlag. Im Kindergarten wurde das Mädchen zu einem berüchtigten Mundräuber. Sobald es die eigene Portion aufgegessen hatte, stibitzte es Speisen anderer Kinder und steckte sie sich schnell in den Mund.
    Das Mädchen ist vier Jahre alt, als die Eltern es in der Poliklinik für Kinder und Jugendliche der Universität Leipzig vorstellen. [161] Mit einer Körpergröße von 112 , 8 Zentimetern ist die Tochter ungewöhnlich groß. Sie ist gesund und normal entwickelt, aber nicht dick. Ihre Mutter ist inzwischen dazu übergegangen, die Nahrungsaufnahme zu überwachen und auf eine bestimmte Menge zu begrenzen, was die Tochter erstaunlich klaglos hinnimmt. Geschwister hat sie nicht. Die restlichen Verwandten des Kindes sind schlank; mit Ausnahme der Großväter, die beide ein wenig rundlich ausschauen.
    Die Ärzte sind fasziniert von dem Mädchen, das immer Hunger hat – und verabreden mit seiner Mutter und den Erzieherinnen im Kindergarten ein ungewöhnliches Experiment. Fünf Tage ernährt die Mutter die Tochter mit den üblichen Einschränkungen und protokolliert bis auf den letzten Krümel, was sie zu sich nimmt. An den folgenden vier Tagen jedoch lassen die Mutter und die eingeweihten Erzieherinnen das Mädchen gewähren. Endlich einmal darf es so oft und so viel essen, wie es will, und sogar frei bestimmen, was es verzehrt: Schokolade und Schnitzel, Würstchen und Gummibärchen – in den vier Tagen langt das Mädchen ordentlich hin; es nimmt durchschnittlich 32  Prozent mehr Energie auf, vor allem in Form von Proteinen und Fett.
    Woher rührt dieser Heißhunger? Die Ärzte können es sich nur mit einer Laune der Natur erklären und untersuchen das Erbgut des Mädchens. In einem Gen (für den sogenannten Melanocortin- 4 -Rezeptor, MC 4 R), das verstärkt in den Zellen des Hypothalamus vorkommt, stoßen sie auf eine winzige Mutation. Ein DNA -Baustein (ein Cytosin) ist dort gegen einen anderen (ein Thymin) ausgetauscht. Es ist ein Fehler mit Folgen: Bestimmte Regelkreise im Hypothalamus des Mädchens sind gestört; aus diesem Grund kann sich das Gefühl der Sättigung nicht einstellen.
    Heißhunger, weil die Gene es so wollen? Etliche Menschen erklären den eigenen Bauchumfang mit einer solchen biologischen Vorbelastung. Nichts anderes erlebt eine Ärztin aus der Wetterau. Dort sei die Fettleibigkeit in einem ihr bisher unbekannten Maß endemisch, berichtet die Ärztin, die in dieser hessischen Gegend eine Praxis betreibt. Eine Frau mit einem Body-Mass-Index von 58 (bei einem Wert von mehr als 30 beginnt die Fettleibigkeit) und ein Junge, der im Alter von neun Jahren bereits eine Fettleber vorweist, gehören zu den Schwergewichten in ihrer Praxis. »Täglich kommen Menschen zu mir«, erzählt die Ärztin, »die wissen möchten, ob es doch bitte, bitte die Drüsen sind.«
    Es ist eine Frage, für deren Beantwortung die Länder der westlichen Welt Forschungsgelder in Millionenhöhe ausgeben. Genetiker und Mathematiker haben sich das Erbgut unterschiedlicher Menschengruppen aus Europa vorgenommen und dabei inzwischen 350   000 verschiedene Stellen in der DNA -Sequenz gemustert, womit mehr als 75  Prozent des Genoms abgedeckt sind. In der Vergangenheit haben die Forscher zwar die Entdeckung manch eines Dickmacher-Gens verkündet, einige der Meldungen jedoch waren voreilig und waren Phantomfunde (darunter
gad
,
enpp
1
und
insig
2
). Übrig geblieben sind gerade einmal zwei DNA -Abschnitte. [162] Zu ihnen gehört das eingangs erwähnte
mc
4
r
, das den Appetit im Hypothalamus reguliert. Die mutierte Form hat zwar einen Effekt, kann aber in den meisten Fällen von Fettsucht nicht als Ausrede dienen. Denn selbst unter den Menschen mit starkem Übergewicht haben nur zweieinhalb Prozent ein mutiertes
mc
4
r
-Gen. Dickliche Kinder tragen einer anderen Studie zufolge sogar nur in 1 , 6  Prozent der Fälle eine
mc
4
r
-Mutation. [163]
    Der andere DNA -Abschnitt, der womöglich Übergewicht begünstigt, hat den Namen
fto
erhalten (abgekürzt nach der englischen Bezeichnung fat mass and obesity associated). Das
fto-
Gen findet sich in jedem Menschen, aber was genau es macht, wissen die Forscher nicht. Allerdings könnte es daran beteiligt sein, das Körpergewicht über das
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