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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal
Autoren: Jörg Blech
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mehr bewegen sich die Einwohner – wodurch die Wahrscheinlichkeit für Übergewicht um 40  Prozent gemindert ist. Wer jedoch in verkommenen Vierteln mit nur wenigen Grünflächen lebt, der ist merklich schwerer. Die Rate von Übergewicht ist um 50  Prozent erhöht – die Nachbarschaft ist eindeutig »adiposogen«.
    Die unmittelbaren Lebensumstände modulieren die Matrix unserer Gene. Welche Ausmaße dieser Effekt annehmen kann, haben Forscher bei den Pima-Indianern erfahren, die im Indianerreservat Gila River im heißen Südwesten der USA leben. Ihre Vorfahren siedelten vor 2000  Jahren in den Tälern des heutigen US -Bundesstaates Arizona. Das Wasser war knapp, aber die Pimas benutzten ein ausgeklügeltes System, um ihre Felder zu bestellen. Überdies sammelten sie Essbares in den Bergwäldern und gingen auf die Jagd. Mit den Spanisch sprechenden Eindringlingen kamen die Pima noch aus, doch gegen Ende des 19 . Jahrhunderts kamen immer mehr weiße Siedler aus den USA in ihr Siedlungsgebiet und machten ihnen das Wasser streitig. Damit war die traditionelle Landwirtschaft und die seit Generationen bewährte Lebensweise der Pimas dem Untergang geweiht. Sie wurden abhängig von den amerikanischen Eindringlingen und bekamen Reservate in den Wüsten zugewiesen.
    Vor mehr als vierzig Jahren war es ein Tross von Mitarbeitern der amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH , der die Gila River Indian Community besuchte. Eigentlich waren die Mediziner gekommen, um herauszufinden, ob die Pima-Indianer häufiger an rheumatoider Arthritis erkranken als die Schwarzfuß-Indianer im viel weiter nördlich gelegenen Montana. Doch als sie die Bewohner des Reservates zu Gesicht bekamen, wurde den Medizinern und Epidemiologen klar, dass diese Menschen ganz andere gesundheitliche Probleme hatten: Die Pimas waren derart übergewichtig, dass es selbst für amerikanische Verhältnisse rekordverdächtig war. Mit einer einzigartigen Forschungsoffensive machten sich Wissenschaftler daran, dem Geheimnis der übergewichtigen Indianer auf den Grund zu gehen. Sie rekrutierten Tausende Testpersonen und zapften ihnen Blut ab; sie protokollierten ihren Leibesumfang, untersuchten ihre Augen, testeten Nieren, legten Verwandtschaftsverhältnisse offen. Die Diagnose war erschütternd: Die Pima-Indianer waren nicht nur äußerst übergewichtig, sondern sie hatten auch eine unglaublich hohe Rate von Typ- 2 -Diabetes mellitus – warum nur war das so?
    Es sollten dreißig Jahre vergehen, bis die Mediziner die Frage eindeutig beantworten konnten. Einer der NIH -Forscher aus dem ersten Tross, der Epidemiologe Peter Bennett, hatte irgendwann ein Gerücht gehört: Es gebe da noch eine unberührt gebliebene Gruppe von Pima-Indianern. Allerdings lebten ihre Mitglieder nicht in Arizona, sondern in den unzugänglichen Bergen der Sierra Madre im nordwestlichen Mexiko. Vergessen von der Außenwelt, hätten diese Pimas sich die traditionelle Lebensweise erhalten können. Bennett machte sich auf den beschwerlichen Weg – und fand das Volk in den Bergen. Auf einer Höhe von 1600 Metern über dem Meer lebten die Indianer in Behausungen aus Lehmziegeln und Holz; auf den Hängen bauten sie Kartoffeln, Bohnen und Mais an. Vor etwa 700 bis 1000  Jahren hatten sich diese Pimas vom Rest des Stammes abgetrennt und in der Abgeschiedenheit der Sierra Madre überlebt. Als der Epidemiologe Bennett und seine Begleiter in die Siedlungen einzogen, wurden sie neugierig empfangen. Die Indianer interessierten sich für die Arbeit der Besucher. 17  Frauen und 23  Männer ließen sich medizinisch untersuchen und gaben bereitwillig Auskunft über ihr Dasein. [169] Die Forscher verglichen diese Daten mit Zahlen und Messwerten aus dem Pima-Reservat in Arizona, die sie ebenfalls an 17  Frauen und 23  Männern ermittelt hatten. Hier ist das Ergebnis:
    Mexiko-Pimas
US-Pimas
Alter (in Jahren)
36 , 6
37 , 2
Größe (in Zentimetern)
163
166
Gewicht (in Kilogramm)
66 , 5
92 , 8
Fettmasse (in Kilogramm)
16 , 7
33 , 5
Energieverbrauch durch körperliche Aktivität (Kilokalorien pro Tag)
1243
711
    Die unterste Reihe lüftet das Geheimnis: Die Pimas in Mexiko bewegen sich viel mehr. In der unwirtlichen Sierra Madre bestellen sie das Feld mit Hilfe ihrer Muskelkraft und haben auch sonst körperlich anstrengende Jobs, etwa in Sägewerken und in Bergminen. Das Trinkwasser holen sie von weit her; die Mahlzeiten bereiten sie nach alter Sitte mit viel Ballaststoffen, wenig Fett und Zucker (die
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