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Gene sind kein Schicksal

Gene sind kein Schicksal

Titel: Gene sind kein Schicksal
Autoren: Jörg Blech
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ist kein starres Gebilde, sondern erstaunlich wandelbar. In Tierexperimenten band Wolfgang Schaper beispielsweise Versuchskaninchen die Oberschenkelarterie im Hinterlauf mit einem Faden ab. Das Blut wurde daraufhin durch die kleinen Gefäße in der Umgebung, durch die Kollateralen geleitet. Diese waren anfangs viel zu eng, jedoch erweiterten sie sich nach einiger Zeit ganz erheblich und wurden schließlich zu Umgehungsarterien – fertig waren die natürlichen Bypässe.
    Ihre Entstehung gehorcht einem biophysikalischen Gesetz: Wenn in einer Ader das Blut schneller und druckvoller strömt, dann vergrößert sich ihr Durchmesser. Ivo Buschmann, ein Gefäßmediziner an der Berliner Charité, sagt: »Die beschleunigte Bewegung des Blutes löst Wachstumsprozesse aus. Durch die erhöhte Schubkraft des Blutes wird die Arteriogenese angeregt.«
    Deshalb tut regelmäßige Ertüchtigung dem Herzen so gut. Unter ursprünglich lebenden Naturvölkern ist der Infarkt unbekannt. Auch körperlich aktive Mitglieder der Industriegesellschaft leben statistisch gesehen erheblich länger als inaktive Menschen. Viele Hobbyläufer im Greisenalter haben aufgrund der normalen Alterung zwar Verkalkungen in den Herzkranzgefäßen, sind aber völlig beschwerdefrei. Anerkennung schwingt mit, als Ivo Buschmann sagt: »Die haben sich selbst mit biologischen Bypässen versorgt.«
    Die Arteriogenese erscheint wie ein in der Evolution entstandener Rettungsdienst. Nicht nur in den Beinen, auch im Becken, Gehirn und Herzen haben Ärzte sie inzwischen nachgewiesen. Die erhöhte Schubkraft wirkt auf die Zellen der Gefäße: In deren Kernen werden bestimmte Gene angeschaltet. In der Folge entsteht ein Protein, das sogenannte Monozyten aus dem Blut anlockt. Diese eilen herbei, geben eine Fülle von Wachstumsfaktoren ab und bewirken damit die Umwandlung der Kollateralen in voll funktionstüchtige Adern. [157]
    Der heilsame Umbau ist jedoch eingeschränkt oder funktioniert gar nicht mehr, wenn ein Mensch Zigaretten raucht oder körperlich träge ist. Überdies dauert es mehrere Tage oder Wochen, bis ein Bio-Bypass gewachsen ist. Als Retterin nach einem Schlaganfall oder nach einem akuten Herzinfarkt wirkt die Arteriogenese nicht schnell genug.
    Aus diesem Grund versuchen Forscher, den Mechanismus künstlich zu verbessern. In einer Vielzahl von Studien verabreichten sie Patienten bestimmte Arteriogenese-Wachstumsfaktoren per Spritze. Das machte die kranken Menschen jedoch nicht immer gesünder. Ganz im Gegenteil: Von außen zugeführt, wirkten die Stoffe wie eine Entzündung im Körper und verursachten in einigen Fällen sogar Herzinfarkte sowie eine Verschlimmerung der Arterienverkalkung.
    Herz-Hose gegen den Infarkt
    Einen anderen Weg verfolgen Ivo Buschmann, seine Frau Eva und weitere Kollegen von der Berliner Charité. Sie versuchen die Arteriogenese zu aktivieren, indem sie das Blut künstlich in Wallung bringen. An einer ersten Studie haben herzkranke Probanden teilgenommen; [158] einer von ihnen ist Holger Schulze, Mitte 50 , ein Sachverständiger für Fahrzeuge aus Brandenburg.
    Wie Gero Behrend ist auch er ein Mensch, der durch viel Nikotin und wenig Bewegung zum Fall für die Medizin geworden ist. In den Herzkranzgefäßen hat Schulze kalkhaltige Ablagerungen und Engstellen.
    An diesem Tag soll ihm mit der neuartigen Therapie geholfen werden. Holger Schulze wartet auf einer Liege im Evangelischen Krankenhaus im Berliner Bezirk Lichtenberg darauf, dass es losgeht. Bis zum Bauch steckt Schulze in einer blauen Hose, in die drei Schläuche führen. Eva Buschmann drückt einen Knopf. Ein Brummen erfüllt den Raum, und jählings rollen Wellen durch Schulzes Körper: Zuerst zucken die Füße nach oben, dann die Oberschenkel, dann der Unterleib.
    Wer den sich im Sekundentakt aufbäumenden und erschlaffenden Körper betrachtet, der muss unweigerlich an Folter denken – nur dass Holger Schulze ganz glücklich ausschaut. »Herrlich«, ruft er auf der Liege, »ich fühle mich, als ob ich in einem Jungbrunnen bade.«
    Die blaue Hose besteht aus aufblasbaren Manschetten, die segmentweise voll Luft gepumpt werden. Auf jeden Impuls hin wird das Blut aus den Beinen in Richtung Oberkörper gedrückt. Auf diese Weise kann das seltsame Beinkleid den Blutfluss wie bei körperlicher Bewegung simulieren. Deshalb fühlt sich Holger Schulze auch so wohl – wie auf einem echten Waldlauf werden in seinem Gehirn Glückshormone ausgeschüttet.
    Die guten Gefühle sind aber
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